Geschwisterlich mit dem Engel leben
Zeitschrift INFO3 30 FEBRUAR 2021
Wolf-Ulrich Klünker über unsere Verantwortung für die geistige Welt
Im Gespräch mit Wolf-Ulrich Klünker über die Wirklichkeit, das Denken und die Berührung mit dem Engel.
Interview: JENS HEISTERKAMP Lochkameraaufnahmen: RAMONA REHN
Herr Klünker, wie sind Sie auf das Thema Engel aufmerksam geworden?
Ich war als Student in naivster Weise auf der Suche nach geistiger Wirklichkeit unterwegs und hatte zunächst evangelische Theologie studiert. Für mich stellte sich dann allerdings heraus, dass die Theologie inzwischen die am meisten materialistische Wissenschaft ist. Ich hatte aber noch das Theologie-Examen gemacht und hatte noch vor, in Theologie zu promovieren. Und dann kam etwas ganz Merkwürdiges. Ich stand eines Tages vor der Unibibliothek in Göttingen und dachte, du gehst da jetzt hinein, greifst dir eine lateinische Schrift und übersetzt die. Ich hatte aber über zehn Jahre kein Latein mehr gelesen. Ich ging also hinein und nahm mir zufällig den Band 122 der Patrologia Latina, einen dieser Bände mit theologischen Texten des Altertums und des Mittelalters, und ich hatte Johannes Scotus Eriugena in der Hand. Dann machte ich etwas vollkommen Wahnwitziges, weil ich von der Schule her nur klassisches Latein konnte, und begann die sogenannte Homelia dieses Autors zu übersetzen, über die ich dann auf den Engel gekommen bin. Im Rückblick ist aus dieser Verrücktheit meine ganze Berufsbiographie, manche menschliche Begegnung und auch mein Verhältnis zur Anthroposophie hervorgegangen.
Schon die mittelalterliche Theologie hat ja gefragt, wie Engel, also körperlose Wesen, überhaupt denkbar sind. Was sagen Sie dazu?
Eine Antwort lautet: Es gibt nicht nur physische Leiber, es gibt auch Organismen, die gar nicht physisch repräsentiert sind. Wie kann man sich das klarmachen? Zum Beispiel hatte ich mit meiner Mitarbeiterin vor knapp einem Jahr einen sehr schweren Verkehrsunfall. Und als wir aus dem verunglückten Auto herauskrochen, hatten wir folgendes Erlebnis: dass wir plötzlich wie in unserer Umgebung waren, ein peripheres Ich. Der ganze Verkehr rauschte in uns hinein. Es waren Menschen da, die diese lebensgefährliche Situation abgefedert hatten, aber wir beide waren wie in der Umgebung und nicht mehr in uns selbst drinnen. Wir brauchen also eine Erweiterung der Psychologie vom zentralen Ich zum peripheren Ich. Das gibt es ja auch zwischenmenschlich, die Erfahrung, dass ich mir selbst mehr im anderen Menschen begegne als in mir selbst. Und dann kommt noch ein Weiteres hinzu: Ich bin überzeugt, wenn heute die Frage nach dem Engel gestellt wird, muss zugleich auch die Frage nach dem Tier gestellt werden. Ich kann nicht eine Stufe höher gehen, ohne zugleich eine Stufe tiefer zu gehen. Was die Beziehung zum Tier angeht, ist da heute eine ganz hohe Sensibilität gegeben.
Sie meinen den Tierschutz, die zunehmende Ablehnung von Massentierhaltung und Ähnliches?
Genau. Da haben wir auf der einen Seite das Tier, das eigentlich gar nicht von seiner Umgebung zu trennen ist, und auf der anderen Seite den Engel, ein Wesen, wo innen und außen nicht mehr getrennt sind.
Man gelangt an ein Außen, das ein Innen ist?
Im Sinne Goethes: „Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, denn was innen, das ist außen.“
Wir als Menschen verbinden unsere Identität ja immer auch damit, körperlich zu sein. Wie sieht das beim Engel aus?
Was das Tier für uns so interessant macht, auch im therapeutischen Sinne, ist die Tatsache, dass sich das Tier nicht verstellen kann. Es ist, was es ist. Bei Hegel gibt es in der Enzyklopädie diese wahnsinnig interessante Stelle, wo er sagt: Man kann den Fuchs nicht perfekter denken, als er ist. Beim Engel ist es genauso: Wenn der Engel die Steckdose falsch denken würde, würde er einen Stromschlag abkriegen. Wir als Menschen können die Steckdose falsch denken, einen Schlag bekommen wir erst dann, wenn wir sie falsch mit dem Schraubenzieher behandeln. Das ist ein entscheidender Unterschied: In dem Moment, wo du mit deinem Denken vollständig in der Wirklichkeit wärst, wärst du nicht mehr frei. Wir sind frei durch unsere Irrtumsfähigkeit. Wir müssen durch Irrtum zur Wahrheit finden. Der Engel aber lebt in der Wahrheit, er ist gar nicht zum Irrtum fähig. Wir sind heute im Unterschied zu früheren Epochen, auch im Unterschied zum 20. Jahrhundert, einerseits in der Situation, dass unser Bewusstsein vollkommen irreal und illusionär geworden ist; und dass wir gleichzeitig auch dem Engel ganz nahe kommen in der Suche nach einem Bewusstsein, das Wirklichkeit ist und nicht nur Wirklichkeit beschreibt. Das Tier ist für uns deshalb interessant, weil es die Möglichkeit des Illusionären und des Sich-Verstellens nicht hat, und der Engel ist aus dem gleichen Grund für uns interessant.
Welche Aufgaben haben Engel in Bezug auf uns Menschen?
Der Engel bildet einen Zusammenhang, einen Zusammenhang, den ich selbst nicht bilden kann. Früher sagte man auch, die Engel seien für das Schicksal zuständig. Meine Mutter hat mir als Kind immer erzählt, ein Engel hätte sie in einem Moment großer Gefahr von den Eisenbahnschienen weggezogen. Man hat früher stark erlebt, dass bei wichtigen biographischen Ereignissen eine Art Schicksalsmacht diese Zusammenhänge herstellt. Der Engel stellt einen Zusammenhang her, wo ich ihn noch nicht bemerke.
„Engel sprachen einst zum Menschen – ihr Verstummen ist Weltenschicksal.“
Also im Sinne des Konzepts der Schutzengel?
Der Engel wirkt in Zusammenhängen, die sich erst von der Zukunft her für mich verifizieren können. Schicksal bedeutet ja einen Lebenszusammenhang, den ich noch nicht vollständig bewusstseinsmäßig durchdringe. Da trotzdem einen Lebenszusammenhang zu denken, das wäre früher der Engel gewesen. Früher musste man sich selbst über die Lebensgestaltung relativ wenige Gedanken machen, weil so Vieles vorgegeben war von der Familie, durch Rollenerwartungen und so weiter. Nun müssen wir heute immer mehr selbst unsere Schicksals- zusammenhänge denken, verstehen und gestalten. Und was wird dann aus dem Engel? Der wird dann frei davon. Der Engel kann einen Schritt weitergehen.
Das heißt, wir Menschen werden nicht nur begleitet, wir können auch etwas für die Engel tun?
Dazu möchte ich sagen: Die geistige Welt wird alt. Und sie hat keine Erneuerungskräfte in sich. Die Erneuerungskräfte können nur vom Menschen und von der Erde kommen, nicht nur für den persönlichen Engel, sondern für die noch darüberstehenden Hierarchien. Der Engel ist ja im Sinne der klassischen Hierarchienlehre, etwa von Dyonisus Aeropagita oder Johannes Scotus, das unterste Glied. Und für sie alle gilt: der Geist wird alt.
„Doch in der stummen Stille reift, was Menschen sprechen zu Engeln.“
Der Geist kann alt werden?
Er ist uralt, steinalt. Entwicklung aber bedeutet ja immer, dass das ganz weit und höchst Entwickelte mit dem
ganz Jungen zusammenkommt. Wenn es nur das ganz weit Entwickelte gibt, gibt es keine Erneuerung. Und das ganz Junge bleibt immer naiv, das kann sich allein aus sich heraus auch nicht entwickeln. Der Engel wartet darauf, dass wir das ganz junge Geistige hinzubringen. Wir haben heute eine Zeit der Engel-Ferne hinter uns, die war auch notwendig zur freien Ich-Entwicklung. Aber jetzt würde ich einen bekannten Steiner-Spruch gerne etwas umformulieren und sagen: „Engel sprachen einst zum Menschen – ihr Verstummen ist Weltenschicksal. Doch in der stummen Stille reift, was Menschen sprechen zu Engeln.“ Wir haben eine Art Übergangspunkt, wo es darauf ankommt, aus einer totalen Geist-Ferne ein neues, individuelles Geistiges zu entwickeln – nicht anknüpfend an die alten geistigen Kräfte – etwas, das wir als geistiges Entwicklungsferment beitragen können. Und dabei ist wirklich jeder gefragt sich vor Augen zu stellen: Was ist mein individueller, anfänglicher geistiger Punkt, den ich nicht irgendwo rezipiert habe, sondern wo ich eigenverantwortlich, eigentätig dran bin?
Ein ganz junger, aber neuer Keim?
Die Überlieferung spricht ja auch von gefallenen Engeln. Damit ist gemeint: Wer sich einmal abgewendet hat vom Licht, geht immer tiefer in die Konsequenz der Finsternis hinein. Aber indem wir Menschen jetzt diese kleinen, individuellen Entwicklungsfermente liefern, gibt es die Möglichkeit, dass der Engel, ich sage mal, mitlernt, dass er allmählich irrtumsfähig wird und an der positiven Wirkung der Menschheitsentwicklung teilhat. Aber dazu muss er etwas kennenlernen was er nicht kann: Dieser winzige Punkt, wo mein Gefühl und mein Denken wirklich identisch werden.
Was heißt das genau?
Das Denken und das Fühlen kommen da zusammen, wo ich an der mir individuell möglichen geistigen Spitze bin – das ist das Engelselement, und jeder hat so etwas – keine allgemein formulierbare, keine moralisch formulierbare Spitze, auch keine anthroposophisch formulierbare, sondern meine individuell mögliche. Hier geht es auch nicht um richtig oder falsch, sondern nur darum, ob es mir gelingt, dranzubleiben. Also der Spannungsbogen zwischen dem, wo ich in meiner eigenen persönlichen Peinlichkeit bin, und der geistigen Spitze, die mir möglich ist. Der Engel hat einen solchen Spannungsbogen nicht und das Tier übrigens auch nicht.
„Der Übergang zum Engel findet dort statt, wo
ich Denken und Leben zusammenbringen kann.“
Was meinen Sie hier mit Peinlichkeit?
Wenn ich auf mich selbst schaue und biographisch zurück- blicke, dann habe ich mich bis auf wenige Ausnahmen
nur durch meine Peinlichkeiten entwickelt. Ganz ehrlich. Gerade das, was einem im Rückblick in den menschlichen Beziehungen extrem peinlich sein kann, die eigenen Fehler, die man ja eigentlich nur selbst kennt. Der Wille muss natürlich diese Spannung aushalten und nicht ausweichen auf die eine Seite und sagen: „Ich habe ohnehin nichts drauf, ich delegiere meine Geisteskompetenz an Rudolf Steiner“. Aber auf der anderen Seite auch nicht die Peinlichkeiten zur Seite schieben und sich geistig irgendwo wähnen, wo man selbst noch gar nicht ist.
Das sind alles sehr sensible innere Phänomene. Bei den Engeln kann ich aber leicht der Versuchung erliegen, sie mir wie eine von mir unabhängige, gegenständliche Welt vorzustellen. Wie entgehe ich dem?
Die Wirklichkeit des Engels fängt da an, wo ich bemerke, dass mein gewöhnliches Denken keine Realität ist, sondern bestenfalls ein Abbild der Realität. Und wenn ich gleichzeitig bemerke: Ich lebe ja nur aus dem Denken heraus. Das ist ähnlich wie die Spannung zwischen der eigenen Peinlichkeit und der eigenen Spitze: Auf der einen Seite habe ich das Erleben: Mein Denken ist total unwirklich. Auf der anderen Seite kann mir klarwerden: Alles womit ich mich identifiziere, geht nur über das Denken, auch meine Gefühle. Ich erlebe, dass mein Denken keine Wirklichkeit enthält, aber ich lebe nur aus dem Denken heraus – wenn ich diese Spannung aushalte, stehe ich eigentlich schon an der Pforte zum Engel. Denn der Engel ist jetzt das, was ich erlebe, indem ich anfänglich lebe aus dem Denken, da wo Denken und Leben identisch sind. Der Übergang zum Engel findet dort statt, wo ich Denken und Leben zusammenbringen kann. Wo immer Denken und Leben von mir allmählich integriert werden können, bin ich eigentlich dabei, geschwisterlich mit dem Engel zu agieren und muss mir das nicht mehr als Menschengestalt mit Flügeln oder ähnliches vorstellen. Das ist alles kein Hexenwerk, also nichts Exotisches. Es gab früher eine schöne Aussage: Wenn ein Engel anwesend ist, muss ein Mensch weinen. Dieser Punkt des Berührt-Seins, wo es auch keine Frage ist, ob ich gemeint bin, dass ich es bin, der diesen Zusammenhang bildet – das wird heute extrem gesucht. In dieser Art des Berührtseins wird diese Geschwisterlichkeit mit dem Engel gesucht.
Das könnte für viele sehr abstrakt klingen.
Ja, aber durch dieses Nadelöhr der Abstraktion müssen wir hindurch, wir müssen die Dinge erst denken, dann können wir sie auch fühlen – nicht umgekehrt. Das Problem mit der heutigen Esoterik entsteht dann, wenn die Menschen nicht durch die Abstraktion wollen, sondern etwas im alten Fühlen suchen. Dann ist aber kein Ich an- wesend. Kann ich so durch die Abstraktion gehen, dass ich an der Wirklichkeit dranbleibe? Das wäre der Weg. Es ist ja heute kein Problem mehr, ans Geistige heranzukommen, aber es ist ein Problem, menschlich ans Geistige dranzu- kommen. Es kommt darauf an, dass ich als Mensch an das Geistige herankomme, das ist es, was sozusagen von der anderen Seite erwartet wird.
Dr. Dr. Wolf-Ulrich Klünker ist Professor für Anthroposophie an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. Er ist Leiter der Turmalin Stiftung und der Delos Forschungsstelle. Zum Thema „Engel“ erschien von ihm das Buch Die Erwartung der Engel: Der Mensch als neue Hierarchie im Verlag Freies Geistesleben.