Lieber Wolf-Ulrich,
In Lesung 45 erlebte ich den Hinweis auf die Sünde gegen den Geist, die nicht vergeben werden kann, als recht fordernd insoweit, als ich länger darüber nachdenken musste, um die Begriffe für mich zu klären.
Folgendes kann ich mir jetzt dazu denken:
Freie, durch Denken erwirkte Zukunftskraft löst Leben ein. Der zunächst erstorbenen biographischen Vergangenheit wird Leben eingehaucht, das sich als das neue karmische Erleben zeigen kann.
Die Vergangenheitsstruktur würde ohne eine Zusammenhangbildung mittels Imagination leblos sein, fest und wie erstarrt, jedoch von Kräften bewegt, die sklavisch den erstarrten Bildern der gewobenen Vergangenheitsfläche dienen – müssten. Willenskräfte würden hier von Totem verschlungen werden: ein Missgestaltes, ein Missbrauch, eine negative Umsetzung von freien Zukunftskräften, weil diese ohne Einwirkung bewusster Ich-Aktivität bewegt werden und chaotisierend wirken. Hier sehe ich den Bezug zur Vermeidung von Naturentwicklung.
Das Natürliche, Kindgemäße, eine offene und freie Lebensgestaltung von kosmischen Kräften und Umgebungseinwirkungen geführt, muss ersetzt werden durch eine neue Zusammenhangbildung geisteswissenschaftlichen Forschens:
Hier zeigt sich der neue Karma-Begriff. Der alte Karma-Begriff ist kein individuell Erworbener: Schnell glaubt der Mensch hier an Inhalte, von denen er hört oder die er studiert. Oder er gibt sich mit erworbenem Wissen zufrieden und hantiert damit. Ein real wirksames, zeitgemäßes Karma-Erleben muss durch freies Denken gestaltet werden; durch einen Denkprozess, in dem Denken und Begriff eine reale Einheit bilden. Diese wäre eine Gestaltung der Zeitkraft aus der Zusammenhangbildung. Das dadurch erwirkte Formprinzip fließt in die Vergangenheitsstrukturen, wird darin Leben, das Korrektur und Qualifizierung erst möglich macht.
Was hierdurch sich ereignen kann, ist ein Erleben des Gegenwärtigen: Dieses Erleben geht mit einem Einheitsbewusstsein einher, das vorher als Form im Denken angelegt wurde und sich nun als Inhalt spiegelt mit realwirksamem Charakter in der Vergangenheitsstruktur. Die zeitlich vorherliegende Imaginationstätigkeit inspiriert sich als Erleben. Es ist eine differenzierte Einheit von zwei Zeitströmen, die individuell errungen ist. Eine vorhandene kosmische Einheit, die im Hintergrund und als Grundlage wirkt, wird hier weder ersetzt oder gar negiert noch spiegelt sie sich im Bewusstsein, sondern die Einheit selbst individualisiert sich und wird durch Anwendung von Freiheit im Denken frei im Leben wirksam. In diesem Sinne erneuert sich der Karma-Begriff. Er zeigt sich durch reale Wirksamkeit als Wirklichkeit. Das Licht, das hier strahlt in dem errungenen Gegenwartserleben, ist ein Wahres, da es individuell im freien Denken synthetisiert wurde. Die Aussage von Rudolf Steiner, dass die Erinnerung lebt, erfährt hierdurch einen Sinn – für mich. Der Zeitstrom der Vergangenheit wird zum Fließen gebracht.
Das Denken in diesem Sinne allein kann dem Leben neue Form geben bzw. Formprinzip für physisches Leben sein, sodass geistgemäßes Leben und individuelles Erleben in der individuellen Biographie zusammenkommen. Das Erleben dieses selbst bewirkten Lebens wäre Tür und Tor zu einer individuellen Schicksalserkenntnis. Hierbei liegt der geistige Blick zunächst weder in Richtung Zukunft noch in Richtung Vergangenheit. Das Erleben im Gegenwärtigen allein ist durchstrahlt von realwirksamen Bildern, die erst in diesem Moment erstehen und wirklich sein können aus den beiden zuvor aktivierten Zeitströmen. Erkenntnis und Einsicht über Vergangenes kann sich erst jetzt tatsächlich bilden. Wobei Erkenntnis hier die Frucht der zeitlich vorangegangenen freien Zusammenhangsbildung ist und nicht mehr gebildet werden muss, aber sich bildsam zeigen kann. Der zuerst geordnete Begriffszusammenhang wird zum Zündstoff, zu einem Formprinzip für reale Geistwirksamkeit in der Gegenwart der individuellen Biographie.