20. April 2025

Osterbetrachtung


19.4.2025

Als Ergänzung zum Audio vom 19.4.2025 stellen wir noch einen Aufsatz von Wolf- Ulrich Klünker aus der Vierteljahresschrift ‚Anthroposophie‘ von Ostern 2019 hinzu: ‚Auferstehung als Entwicklungsprinzip der Geisteswissenschaft‘

Auferstehung als Entwicklungsprinzip der Geisteswissenschaft

Wolf-Ulrich Klünker

Der Vortrag „Wie finde ich den Christus“ gehört vermutlich zu den bekanntesten Vorträgen im Lebenswerk Rudolf Steiners.1 Hier wird der Anfang eines neuen Verständnisses der Auferstehung formuliert. Jede Auferstehung setzt einen Tod, eine Krise, ein Scheitern voraus. Tod und Scheitern werden dabei nicht als Schicksalsschläge oder tragische Ereignisse, sondern als Intentions- oder Willenswirklichkeit geschildert. In Anknüpfung an Angelus Silesius heisst es mehrfach: „Das Kreuz von Golgatha kann dich nicht von dem Bösen, wo es nicht auch in dir wird aufgericht’, erlösen.“ Die Osterereignisse der Zeitenwende bleiben wirkungslos, wenn sie nicht individuell und willentlich nachvollzogen werden.

Imitatio Christi im Ich

Dieser Nachvollzug bzw. (wie man früher gesagt hätte) die imitatio Christi nimmt nun eine radikale, gleichsam „psychologische“ Form an, in konsequenter Individualisierung und Ich-Zentrierung: Ich bemühe mich um Selbsterkenntnis; und je ehrlicher diese Bemühung praktiziert wird, desto deutlicher muss sie scheitern. Mehrfach spricht Rudolf Steiner vom Erleben der Ohnmacht und von dem Tod, der mit dem Erleben der eigenen Ohnmacht verbunden ist. Ich bemerke in der schmerzlichsten Weise, dass ich meine Intention nicht einlösen kann, dass ich unfähig bin, zur Selbsterkenntnis zu gelangen. Eine solche Ohnmacht bezeichnet Rudolf Steiner in menschenkundlicher Perspektive als „Seelentod“. Wenn der selbstinitiierte „Seelentod“ tief genug empfunden würde, könnte aus ihm eine „Auferstehung zum Geist“ hervorgehen. Diese Auferstehung wird als Wirkung des Christus dargestellt, und zwar in einem komplexen menschenkundlichen Entwicklungszusammenhang: Der menschliche Leib ist immer sterblich gewesen; und nun sah Rudolf Steiner vor gut hundert Jahren für das zwanzigste Jahrhundert die Gefahr, dass sich die menschliche Seele so stark mit dem Leib verbindet, dass sie ebenfalls sterblich wird. Die „Auferstehung zum Geist“, die Christus ermöglicht, macht die Seele überlebensfähig und bildet damit die Grundlage für die nachtodliche Existenz des Ich und für seine Fähigkeit zur Reinkarnation.

Betrachtet man diesen Zusammenhang aus der heutigen Sicht des 21. Jahrhunderts genauer, so fällt auf, dass diese selbstgewählte Selbsterkenntnis-„Übung“ als Erkenntnisbemühung oder als Denkintention geistig beginnt; dass sie aber nicht eingelöst werden und aus ihr zu-nächst noch keine Kraft zur Auferstehung hervorgehen kann. Der Umschlagspunkt entsteht erst, wenn sich aus der Erkenntnisbemühung kein Ergebnis, sondern eine Empfindung oder ein Gefühl bildet, und zwar ein radikal negatives: das Erleben des eigenen Scheiterns und der eigenen Ohnmacht. Und genau darin liegt indirekt das Entwicklungsprinzip der Geisteswis-senschaft. Unter den Bedingungen der irdisch-menschlichen Existenz wirken Wahrheit, Erkenntnis und Denken nicht unmittelbar – ich muss mich zunächst in konsequentester Weise existentiell (und das heisst im Gefühl) mit der Erkenntnissituation bzw. mit der Wahrheitsintention verbinden. Erst aus dieser empfindenden oder fühlenden Verbindung kann aus dem Geist diejenige Kraft hervorgehen, die zur Auferstehung führt. In ihr liegt übrigens auch diejenige Kraft, die vorgeburtlich aus einer völlig individuellen Empfindung heraus den individuellen Organismus gebildet hat, ihn als Grundgefühl des Herzens lebendig erhält und als Selbstheilungskraft immer wieder erneuern kann.

Wollte man dieses Auferstehungsprinzip menschenkundlich und therapeutisch konkretisieren, so müsste genau ins Auge gefasst werden, dass die Erneuerungs- oder Auferstehungskraft nicht aus einem mitgebrachten oder „alten“ Gefühl entsteht, sondern aus einem neuen oder „künstlichen“. In der Bemühung um Selbsterkenntnis produziere ich gleichsam das Gefühl der Ohnmacht, das ich vorher nicht hatte. Das nicht vorgefundene, sondern autonom hervor-gebrachte Gefühl besitzt im Unterschied zu den mitgebrachten „alten“ und vorfindlichen Ge-fühlen (Hegel hätte diese Empfindung als „gegeben“ bezeichnet) erstens eine Beziehung zum Geist, die Rudolf Steiner knapp sechs Jahre später im Heilpädagogischen Kurs als die leib-schaffende Kraft des Denkens herausgearbeitet hat. Zweitens beinhaltet das autonom hervor-gebrachte Gefühl potentiell eine den Organismus heilende Kraft. Allerdings muss der Begriff Organismus dabei umfassend verstanden werden: zunächst sichert diese Kraft das Überleben des Seelenorganismus – aber nicht als ein Weiterleben, nicht als eine Fortsetzung der bisherigen Existenz. An deren Stelle tritt ein neues seelisches Leben, das vom Ich auch als solches empfunden wird; in ihm liegt verborgen die Kraft zur auch körperlichen Selbstheilung, zum leiblichen Neuanfang und damit zu einer umfassenden Auferstehung.

Nur der Mensch

Albertus Magnus hat im 13. Jahrhundert ein solches seelisches Auferstehungsprinzip in eine ungeheuer umfassende und konsequente Perspektive gerückt. Er deutet nämlich an, dass nur der Mensch zu einer umfassenden Erneuerung und Auferstehung fähig ist.2 Sowohl der irdische Naturprozess als auch die geistigen Hierarchien, deren Wirksamkeit irdische Natur begründen, sind darauf angewiesen, durch den Menschen erneuert zu werden. Denn nur der Mensch verbindet in sich die irdische und die geistige Existenz – und für sich genommen sind beide nicht zukunftsfähig. Albertus spricht von einer Respiritualisierung der in die Natur ein-gegangenen geistigen Formen; deren so verstandene Auferstehung ist nur durch den Menschen möglich. Letztlich ist damit auch eine Vermenschlichung, eine Menschwerdung der Natur angekündigt. In dem gegenüber wiedergegebenen Gemälde „Der Morgen“ des großen Architekten und Malers des 19. Jahrhunderts, Karl Friedrich Schinkel, lebt eine Auferstehung der Natur im Menschen – die zugleich auch eine Auferstehung des Menschen in der Natur bedeutet. Eine solche reale Empfindungsform befreit im Sinne des Albertus die hierarchischen Formen aus der Natur.

Man kann die weitere entwicklungsgeschichtliche Konkretisierung diese Auferstehungsprinzips darin sehen, dass mit zunehmender Ich-Entwicklung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich werden konnte, was oben als leiblich wirksame Kraft des Gefühls charakterisiert wurde. Denn diese Art des selbst autonomen Gefühls kann nur der Mensch als denkendes und wahrheitsorientiertes Wesen hervorbringen; dem Tier fehlt die Fähigkeit des Denkendem Engel (und höheren Hierarchien) die leibliche Existenzform, die die Grundlage der Gefühlsbildung darstellt.

In dieser Perspektive wird vielleicht sogar nachvollziehbar, warum ein Mensch in der Auferstehung bzw. Auferweckung Christus vorangehen musste – und auch für Christus selbst wurde die eigene Auferstehung erst möglich, als er in den Leiden und im Tod der Passionsgeschichte seelisch und damit gefühlshaft vollständig Mensch geworden war. Auf diesem Weg vorangegangen war ihm Lazarus, den er „lieb hatte“ (vgl. Johannes 11) und der in geisteswissenschaftlicher Perspektive als Initiator des Johannes-Evangeliums und als derjenige Jünger ver-tanden werden kann, der „an der Brust des Herrn“ ruhte.3

Lazarus ist krank und stirbt. Die entsprechende Darstellung im Johannes-Evangelium kann als seelische Eskalation von negativen Gefühlen charakterisiert werden: die Verzweiflung der Familie und der Angehörigen ist groß, auch weil Christus zunächst nicht anwesend ist. In dramatischer Beschreibung wird dargelegt, dass alle weinen, schließlich auch Christus selbst. Unter dem oben entwickelten Gesichtspunkt wird deutlich, dass Christus sich zunächst in die radikalste menschliche Gefühlsbildung hineinbegeben musste, bevor er fähig war, leiblich eingebundene Laute zu artikulieren, die der körperlichen Atmung näher standen als dem aus-gesprochenen Wort.4 Diese Situation wird in den meisten Übersetzungen der Stelle missverstanden. Christus musste seelisch gefühlshaft als Mensch in der Atmung und Artikulation die Leibesgrenze in sich selbst berühren (vergleiche das Weinen und Schluchzen), um die Kraft zur Auferweckung des Lazarus ausbilden und schließlich die Worte sprechen zu können: „Lazarus, komm heraus“ (aus dem Grab). Hier ist wieder das Grundprinzip erkennbar, dass eine geistige Tätigkeit, nämlich die „große“ Kraft des Geistwesens Christus, zunächst zur menschlichen Empfindung, im Weinen und in der Artikulation von Lauten sogar ansatzweise körperlich und damit vollständig menschlich werden musste, um dann als Auferstehungskraft wirk-sam werden zu können.

Methodische Konsequenzen und gegenwärtige Perspektiven

Das Prinzip einer solchen bewussten Zusammenhangsbildung zwischen geistigen, seelischen und leiblichen Aspekten kann auch in Rudolf Steiners Forschungen zum Leben des Jesus bzw. der Jesusgestalten gefunden werden. In den Vorträgen des sogenannten „Fünften Evangeli-ums“ (in den Jahren 1913 und 1914; GA 148) wird nämlich deutlich, dass hier nicht Lebensgeschichten des Jesus historisch berichtet werden. Vielmehr wird zunächst ein geistiger Gesichtspunkt eingenommen, der sich über die Pfingstereignisse in die Bewusstseinslage der Apostel einlebt und dann zu erkennen vermag, dass die Apostel erst nach dem Pfingstgeschehen, also aus geistiger Klarheit heraus, rückblickend die Ereignisse des Jesus-Lebens erkennen konnten. Dieser rückblickende Klärungsprozess, der erst aus geistigem Erwachen möglich wurde, wird vom Betrachter mitvollzogen, und damit werden die Ereignisse der Jahre des Jesus-Lebens anschaubar. Eine geistige Vergegenwärtigung, vergleichbar mit der oben ge-schilderten Selbsterkenntnis-Bemühung, führt also zu einer neuen seelischen Erlebnisfähigkeit, in der sich die Ereignisse überhaupt erst zeigen können.

Es gibt keine anderen Vorträge Rudolf Steiners, in denen so häufig Gefühls- und Empfindungsschilderungen (auch im Hinblick auf ihn selbst) anzutreffen sind wie die Vorträge zum „Fünften Evangelium“. Geistige Selbstaktivierung macht empfindungsfähig, und erst aus dieser „künstlich“ hergestellten Gefühlsfähigkeit wird Erkenntnis möglich. Es handelt sich dabei methodisch um eine nachträgliche Erkenntnis, vom Gesichtspunkt der geschilderten Ereignis-se her gesehen um eine zukünftige. Erst die Empfindungsvertiefung, die in der Zukunft möglich wird, wenn sich der Kreis der Ereignisse durch ein Aufwachen in der Erkenntnis schließt, kann die gefühlshafte Fähigkeit zur Erkenntnis herstellen – eine Auferstehung der Vergangenheit vom Zukunftspunkt der Ich-Entwicklung her.

Dieses methodische Auferstehungsprinzip ist in der Ich-Entwicklung des 21. Jahrhunderts nicht mehr nur christologisch aufzufassen. Geistige Selbstaktivierung, geistige Entwicklung mit entsprechender Intention macht nicht „schlauer“, stellt nicht einfach eine Erkenntnishöhe her, sondern ermöglicht in der inneren Resonanz die Ausbildung einer neuen Empfindungsschicht und damit einer Gefühlstiefe, in deren Erleben Wahrheit und Wirklichkeit erst zugänglich werden. Die neue Empfindungsschicht hat, das mag deutlich geworden sein, keine ge-fühlshaft-grandiosen, sondern eher leidende Aspekte. Aus Anthroposophie heraus müsste immer deutlicher spürbar werden, dass jeder Erkenntnisschritt eine Gefühlsvertiefung als Resonanz ausbilden muss; darin individualisiert sich die Wahrheit, darin kann Erkenntnis kraft-wirksam werden. Anthroposophie wäre dann stärker sein solcher individueller Wirksamkeit als in ihren „Inhalten“ zu suchen. Gerade aber in dem neuen Ich-getragenen Empfindungs-raum können diejenigen Kräfte sensibilisiert und erneuert werden, die seelisch, leiblich und im Hinblick auf die Wirklichkeit „therapeutisch“ wirken und damit umfassend Auferstehung ermöglichen.

Der Morgen (Helmut Börsch-Supan, Hsg.: Karl Friedrich Schinkel. Bild-Erfindungen. S. 140, Berlin 2007, Deutscher Kunstverlag)