Geisteswissenschaft in Rose und Kreuz
Wolf-Ulrich Klünker
Das rosenkreuzerische Verhältnis zum Geist ist existentiell: Aus Gott werden wir geboren; in Christus sterben wir; durch den heiligen Geist können wir auferstehen. In der Entwicklung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft hat Rudolf Steiner 1924 dieses Geistverhältnis individualisiert: Aus Gott werde ich geboren; in Christus sterbe ich; durch den heiligen Geist kann ich auferstehen.
Existentiell ist dieses Verhältnis zum Geist insofern, als es auf der Lebensebene seelisch und biographisch das Erleben von Tod und Auferstehung mitumfasst. Diese Beziehung von Erkenntnis und seelischer Existenz ist inzwischen längst auch Grundlage der Anthroposophie geworden; Geisteswissenschaft im Sinne einer esoterischen Hochschule steht schon in den Lebensfolgen der Veranlagung bei Rudolf Steiner und des 20. Jahrhunderts.
Damit tritt die eher rein geistige michaelische Wirkung mit der Erdenexistenz des Ich gleichsam in einen rosenkreuzerischen Raum ein. Geistig-michaelisch wirken die Folgen des eigenen Denkens. Was ich vorgeburtlich im Begriffszusammenhang zu erfassen vermag, wird mit der Geburt bis in das Leibesgeschehen hinein Grundlage meiner Existenz. Auch dieses Verhältnis ist von Rudolf Steiner 1924 in Ansätzen skizziert worden: in den ersten Vorträgen des Heilpädagogischen Kurses. Das hier sich abzeichnende Verhältnis von michaelisch-geistiger Veranlagung und rosenkreuzerisch seelischer und leiblicher (existenzieller) Einlösung hat im Laufe des 20. Jahrhunderts eine ungeheure Intensivierung erfahren. Geistige Wirklichkeit besteht nicht mehr unabhängig von ihrer seelisch-existentiellen Realisierung, und umgekehrt steht die Biographie auch in ihrer seelischen und leiblichen Dimension immer stärker unter direktem (michaelischem) Geisteinfluss.
Dieses Verhältnis wirkt nur auf den ersten Blick selbstverständlich. Denn es bedeutet in der Konsequenz, dass der Geist nur dort ist, wo ich existentiell bin – ich bin aber nur dort wirklich existent, wo der Geist ist. Geistige Wirklichkeit und geistiger Inhalt können nicht mehr delegiert werden: nicht an die Hierarchien, nicht an Rudolf Steiner, nicht an Offenbarung und Erleuchtung. All diese Bezüge bleiben heute abstrakt und theoretisch, wenn ich nicht mit ihnen identisch bin. Nicht die geistige Fülle ist real, sondern der geistige Ort, an dem ich mich befinde. Insofern ist die kleinste Hütte als geistiger Raum wirklicher als die größte Kathedrale, wenn sich kein Mensch in der Kathedrale wirklich und nachvollziehbar befinden kann. In diesem Sinne hat man mit Christus zu sagen „Ich bin es“ (Johannes 18) – und nicht mit Petrus „Ich bin es nicht“ (Johannes 17).
Damit gerät geistige Wirklichkeit bis in den hierarchischen Raum hinein in eine Abhängigkeit vom menschlichen Ich. Hier liegt gegenwärtig geisteswissenschaftliche Wirklichkeit; auf sie konnte Rudolf Steiner im Spätwerk noch hindeuten. So fasst er die Realisierung geistiger Substanz im menschlichen Ich im Priesterkurs zur Apokalypse (September 1924) in das Bild, Johannes spreche mit dem geistigen Inhalt der Apokalypse sein eigenes Ich aus. Konsequent betrachtet wird man in einer johanneischen Geisteswissenschaft einen geistigen Inhalt nur noch dort finden, wo sich das eigene Ich befindet, während andererseits sich das Ich nur noch dort findet, wo es selbst und eigenverantwortlich in einen geistigen Raum eintreten kann.
In diesem Sinne kann die Anthroposophie Rudolf Steiners geisteswissenschaftlich nur aus ihrer eigenen Zukunft erschlossen werden; gegenwärtige und zukünftige Geisteswissenschaft hat das Werk Rudolf Steiners weder zu konservieren noch fortzusetzen. Die Frage hätte also zu lauten, in welchem geistig-seelischen Raum sich Rudolf Steiner heute befindet, ähnlich wie er selbst nicht nach dem verstorbenen Goethe, sondern nach dem Goethe seiner Gegenwart gesucht hat. Diese individuelle Dimension geistiger Wirklichkeit erweist sich nicht nur im Hinblick auf das Werk, sondern auch auf das Leben Rudolf Steiners als wichtig. Generell gilt, dass, ähnlich wie in der karmischen Entwicklung, niemals auf ein vergangenes Leben, sondern nur auf ein vergangenes Bewusstsein rekurriert werden kann. Das Leben wird durch den Tod beendet; der geistige (Bewusstseins-)Inhalt wirkt fort. Vergangenes Leben ist Vergangenheit, wird von neuem nachtodlichen, vorgeburtlichen oder irdischen Leben abgelöst. Dort ist der gegenwärtige Rudolf Steiner zu treffen.
Das bedeutet, auch im Hinblick auf gegenwärtige Steiner-Biographien, dass sowohl minutiöse Rekonstruktionen des Lebens als auch die Betonung der geistigen Sendung und der mit ihr verbundenen Inhalte zu kurz greifen. Ebenso wenig können geistige Inhalte Rudolf Steiners gesammelt, kombiniert oder „hochgerechnet“ werden, um zur Geisteswissenschaft der Gegenwart zu gelangen. Sondern heutige Anthroposophie müsste durch diese Inhalte auf etwas anderes blicken: auf den Geistleib, der gleichsam „rosenkreuzerisch“ entsteht, wenn sich geistige Wirklichkeit und seelisch-existentielle Realität im Ich biographisch verbinden. Das gleiche gilt auch für die Beziehung zu Rudolf Steiner: auch er ist weder in einer rein geistigen, noch in einer Lebensform zu finden, sondern in einer entsprechenden Geistleiblichkeit, die geistig oder irdisch identifiziert werden könnte.
Nur aus einer solchen Geistleiblichkeit kann die tote Anthroposophie geisteswissenschaftlich auferstehen. In einer solchen Geistleiblichkeit ist die michaelische Veranlassung und die rosenkreuzerische Einlösung enthalten. Die Form des Geistleibes im Ich existiert im Hinblick auf die Schwelle diesseits und jenseits zugleich. Der Geistleib umfasst auch das gegenwärtige geistige Leben Rudolf Steiners, ohne Mumifizierung vergangener geistiger Inhaltsfülle (in der kein Ich mehr wirklich anwesend sein kann, auch nicht das Rudolf Steiners) – und ohne Fixierung des Blicks auf eine Biografie, die 1925 zuende war. Und ein solcher Geistleib bietet den Raum, in dem das eigene Ich sich in einer Art geistig-seelischer Identifikation selbst empfinden lernen kann.
(erschienen in ‚Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Ausgabe 2/2011 März‘)