3. März 2024

Vom Unbewussten zu Leben und Tod


Charline Fleischhauer

Im Heilpädagogischen Kurs bildet Rudolf Steiner einen Zusammenhang zwischen demjenigen, was der Mensch innerhalb seines Erdenlebens an der Welt erlebt und der Bedeutung dieser Erlebnisschicht für seine nachtodliche Existenz: „Außenwelt im Erdenleben ist geistige Innenwelt im außerirdischen Leben.“1 Diesem Zitat geht voran, dass die Bedeutsamkeit des Welterlebens sich dem gewöhnlichen Bewusstsein des Menschen weitgehend entzieht, obgleich es für sein Unterbewusstsein von großer Bedeutung ist.2 Damit bezieht sich Steiner auf das Unbewusste im Menschen, was in der Vorlesung als die Frage des 20. Jahrhunderts herausgestellt wurde.
Im Erdenleben erlebt sich der Mensch zentral in sich selbst und bildet auf dieser Grundlage unterbewusst ein Welterleben aus, welches nachtodlich seine geistige Innenwelt bildet. In dem Mitvollzug dieses Gesamtzusammenhanges ist in mir die Aussage von Wolf-Ulrich Klünker  aufgestiegen, dass die Frage des 21. Jahrhunderts nicht mehr die Frage nach dem Unbewussten sei, sondern die Frage nach Leben und Tod, welche sich mir vor diesem Hintergrund ganz neu erschließen konnte. Denn gilt der damals von Steiner dargestellte Zusammenhang von irdischer und nachtodlicher Existenz heute nicht auch schon im Erdenleben? Insofern, als dass ich heute bereits im Leben etwas von meiner nachtodlichen Existenz – meinem peripheren Ich – mitbekommen kann, was zu Zeiten Steiners erst nach dem Tod möglich war. Dadurch ergibt sich die Frage, ob Leben im 21. Jahrhundert noch als dasselbe gelten kann wie im vorigen Jahrhundert oder ob sich die Verhältnisse mit dem Verschieben der Schwelle vollständig verändert haben, sodass heute ein neuer Begriff von Leben entwickelt werden müsste. Das Welterleben, welches im Heilpädagogischen Kurs noch als Vorbedingung für eine nachtodliche Existenz galt, könnte heute als Bedingung dafür gelten, das überhaupt Leben entsteht.
Ergibt sich mein Ich-Gefühl heute alleinig aus dem Diesseits, d.h. aus dem, was ich mitbringe und zentral in mir erlebe und es mir nicht gelingt, ein empfindendes Denken an dem auszubilden, was mich umgibt, welches mich über meine eigenen Grenzen hinausführen würde, so erlebe ich mich allein in meiner irdischen Dimension, welche der Vergänglichkeit unterliegt. Bilde ich aus mir selbst heraus keinen zukunftsfähigen Empfindungsraum aus, in dem ich mich im anderen Menschen oder in der Welt selbst erleben kann, befinde ich mich nicht im Leben, sondern in einem Todesprozess. In der Konsequenz findet jedoch nicht nur mein Erleben keinen Bezug zur Außenwelt, sondern auch die Außenwelt keinen Zugang zu jener Ich-getragenen Empfindungs- schicht, auf welche sie heute angewiesen ist, um selbst lebendig sein zu können. Nachtodliche Verhältnisse auf der Erde bedeuten dann nicht nur, dass ich in der Welt lebe, sondern auch, dass die Welt sich aus dem konstituiert, was ich an ihr erlebe. Erlebe ich sie nur als das, was sie bereits ist, ohne imaginativ, inspirativ und intuitiv über das, was sich mir zeigt, hinauszugehen, erlebe ich sie gar nicht in ihrer Lebendigkeit, sondern ebenfalls im Todesprozess, welcher letztlich aus meiner fehlenden Sensibilität hervorgeht.
Die Frage des 21. Jahrhunderts ist möglicherweise deshalb die Frage nach Leben und Tod, weil heute kein Leben mehr von sich aus vorausgesetzt werden kann und überall dort, wo es dennoch vorausgesetzt wird, Negativkräfte wirken, die formauflösend sind und in der Folge Tod hervorbringen. Diese Todesprozesse sind heute bereits an vielen Stellen erlebbar: am seelischen Zustand vieler Menschen, an der Beschaffenheit der Natur, an zwischenmenschlichen Beziehungen und den sozialen Gefügen, welche daraus hervorgehen. Alles wartet darauf, vom Ich her erschlossen und damit zum Lebensprozess umgewandelt zu werden.
Aufgabe des Menschen wäre heute demnach, vom eigenen Umfeld und vor allem vom anderen Menschen durch eigene Zusammenhangsbildung ein Verständnis auszubilden, aus welchem eine Empfindung hervorgehen kann, die selbst als formschaffende Kraft wirksam werden kann. So kann das Gewordene aus der Kraft der menschlichen Intention in die Wirklichkeitsdimension des Werdenden, sich Entwickelnden und somit ins Leben überführt werden. Aus der Umstülpung der Innen-/Außenverhältnisse ergibt sich eine neue Menschenkunde, in der das Ich kein Gegenüber der Welt ist, sondern ein Teil von ihr.

1 Steiner, Rudolf: 1. Vortrag, Dornach, 25. Juni 1924, in: Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, Hans W. Zbinden (Hrsg.), Heilpädagogischer Kurs, 7. Aufl., Dornach: Rudolf Steiner Verlag, S. 21.
2 Vgl. ebd.