23. August 2024

 „Selbsterkenntnis – Selbstentwicklung“


eine Zusammenfassung von Charline Fleischhauer, Studentin an der Alanus-Hochschule und Mitarbeiterin der Forschungsstelle DELOS.

In der Lektüre Selbsterkenntnis – Selbstentwicklung. Zur psychotherapeutischen Dimension der Anthroposophie (1997) von Wolf-Ulrich Klünker wird die Psychologie in ihrem geisteswissenschaftlichen Zusammenhang betrachtet. Jedoch nicht im Sinne einer historischen Darstellung, sondern als Voraussetzung für eine Psychologie der Gegenwart und Zukunft, die an die Frage nach geistiger Individualität anknüpft. Dadurch kann deutlich werden, dass sich die Psychologie ausgehend von Aristoteles (384-322 v. Chr.) bis ins späte 19. Jahrhundert hinein auf einem Verständnis der menschlichen Seele gründete, welches die Erkenntnis der menschlichen Seele von ihrer Beziehung zum Geist her zu erlangen suchte. In den von dort an folgenden therapeutischen Ansätzen wurde fast ausschließlich die Beziehung der Seele zum Leib betont; wie beispielsweise in der Psychoanalyse, die Sigmund Freud am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte. Durch diese Entwicklung der Psychologie ist der Geistbezug der Seele verloren gegangen.

Die weitreichende Perspektive des Buches besteht darin, dass dieser Verlust nicht nur geisteswissenschaftlich festzustellen ist, sondern in umfassender Weise kulturwirksam geworden ist und somit bis in die individuelle Gedanken-, Gefühls- und Intentionsbildung hinein wirksam war und bis heute ist. Die Frage stellt sich nach dem Verständnis der Lebensgrundlage der Seele als Voraussetzung für ein gesundes Seelenleben, aus dem heraus heilsame Therapien entwickelt werden können, wenn die Gesundheit der Seele nicht mehr gegeben ist. Darin zeigt sich bereits, dass die in diesem Sinne gemeinte neue Psychologie nicht nur beschreibt, was die Seele ist, sondern sich durch sie die Entwicklung und Gesundung der Seele erst ergeben kann.

Der Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Psychologie bei Aristoteles war die Frage danach, was mit der Seele passiert, wenn sie sich vom Leib trennt, also nach dem Tod. An diese Fragestellung schlossen sich 2500 Jahre Wissenschaftsgeschichte an, in der sie immer wieder aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Da nur derjenige Teil der Seele nachtodlich weiter existieren kann, der mit dem Geist verbunden ist, war der Geistbezug der Seele in der Psychologie zentral. Aus der aristotelischen Tradition heraus konnte Thomas von Aquin (1225-1274) anknüpfend an Themistios (etwa 317-388) im 13. Jahrhundert den Ich-Begriff entwickeln. Er weist auf den Zusammenhang von geistiger Individualität und der Unsterblichkeit der Seele hin; denn wird der Geist als ein allgemeiner Geist gedacht, so muss davon ausgegangen werden, dass nach dem Tod nichts von dem menschlichen Ich übrig bleibt. Dadurch ergibt sich eine unmittelbare Bedeutung der Unsterblichkeitsfrage für das Ich-Verständnis und die Selbsterkenntnis, da beide nur dann real sein können, wenn sie eine Wirklichkeitsschicht des Ich berühren oder diese sogar hervorbringen, die nicht vergeht, wenn die Seele sich vom Leib trennt.

Verliert die Seele menschheitsgeschichtlich und individuell ihre Beziehung zum Geist, so verliert sie ebenfalls ihre nachtodliche Existenzform. Rudolf Steiner weist darauf hin, dass das tägliche Leben und das abstrakte wissenschaftliche Denken „an eine Grenze des Lebensweges führen, an der das seelische Menschendasein ersterben müßte, wenn es diese Grenze nicht überschreiten könnte“.[1] Darin kommt zum Ausdruck, dass sich das Problem des Seelentodes bereits ins Erdenleben hinein verlagert hat. Eine solche Betrachtungsart ermöglicht es, seelisches Leiden und auch seelische Erkrankungen als Ausdruck einer unzulänglichen oder fehlenden individuellen Beziehung der Seele zum Geist, also zum Denken anzusehen. Dann kann auch verständlich werden, warum die Anthroposophie als Ausgangspunkt zur Weiterentwicklung der Psychologie herangezogen wird. Die heute wissenschaftlich und im Selbstverständnis vieler Menschen weit verbreitete Grundauffassung begreift das (eigene) Denken so, dass es die Wirklichkeit bestenfalls abbildet, selbst jedoch realitäts- und lebensfern bleibt. Die therapeutische Dimension der Anthroposophie und damit die Perspektive des Buches besteht darin, das Denken als Lebensgrundlage der Seele zu begreifen und die Beziehung der Seele zum Denken in gesunder Weise wieder herzustellen.

Die Verbindung der Seele mit dem Geist kann auf der einen Seite dazu führen, dass sich eine gewisse Freiheit gegenüber den vorher angestrebten Erlebnisinhalten, die im Außen gesucht werden, ergibt, weil sie nicht mehr die Grundlage des Seelenlebens oder des Ich-Erlebens darstellen. Auf der anderen Seite kann sich dadurch allmählich die Identifikation mit den eigenen Vergangenheitserfahrungen lösen, worin eine große therapeutische Kraft liegt.

Die geistige Arbeit wird dabei als eigentlich seelisch wirksame Kraft begriffen. Diese Kraftentfaltung kann jedoch nur aus demjenigen Denken hervorgehen, das keine abstrakte Theoriebildung bleibt, sondern als Erkenntnisbemühung ernst genommen wird, also als der Versuch, die eigene Lebenssituation erkennend und gestaltend zu ergreifen. Die therapeutische Wirkung, die aus der Kraft des Denkens hervorgehen kann, ist dabei selbstverständlich nicht unmittelbar zu erwarten. Wird die Beziehung zum eigenen Denken durch Erkenntnisbemühung konsequent verfolgt und hergestellt, so kann sie ganz allmählich und weitgehend unbemerkt zur neuen seelentragenden Grundlage werden. Durch die Entwicklung des Denkens kann sich das Ich-Erleben, das ständigen Stimmungs-, Gefühls- und Erlebniswechseln unterliegt zunehmend aus der erlebnisorientierten Innenwelt heraus befreien. Ein wirklich ichhaftes Erleben und damit im eigentlichen Sinne Ich-Erleben, setzt einen festen Punkt außerhalb des dauernden Wechsels seelischer Erlebnisformen voraus. Das bedeutet jedoch, dass menschliches Seelenleben letztlich nur dann gegeben ist, wenn alle Tätigkeiten bzw. Erlebnisse in den oben genannten Ich-Punkt münden und diesen weiterentwickeln. Daraus folgt, dass es Vorstellungs-, Denk- und seelische Erlebnisse gibt, die nicht ich-spezifisch sind. Eine Ich-Psychologie müsste demnach vor dem Hintergrund dieser Ich-Tätigkeit betrachtet werden, die die Ich-Verwirklichung als das charakteristische Merkmal der menschlichen Seele begreift.

Auf diese wichtige Perspektive der Psychologie hat auch Hegel hingewiesen, indem er eine ernste Erkenntnishaltung und konsequente Wahrheitsorientierung als die entscheidende Grundlage einer wirklichen Psychologie herausstellt. Sie darf sich nicht auf die Deskription seelischen Innenlebens beschränken, sondern muss sich an der Wahrheitsfrage orientieren, weil sie die Seele ansonsten in Unfreiheit führt, aus welcher sie ohne die Wahrheitsorientierung auch keine Therapie entwickeln kann, die dazu fähig ist, die Seele wieder zu befreien.

Das Ich, das in diesem Sinne aus Ich-Tätigkeit hervorgegangen ist, kann sich dann auch die Unsterblichkeitsfrage erneut stellen. Die Unvergänglichkeit dieses neu gewordenen Ich ist dann bereits im irdischen Dasein dadurch gegeben, dass es sich Existenzbedingungen schafft, die sich von den wandelnden Lebenssituationen emanzipiert haben, indem sich etwas Bleibendes entwickelt hat. Darüber hinaus hat sich das Ich ein Bewusstsein gebildet, das möglicherweise auch nachtodlich weiterexistieren kann. Durch einen solchen Ich-Begriff könnte die nachtodliche Existenz der Seele wieder Einzug in die Psychologie erhalten.

Weiter werden drei entscheidende Elemente geisteswissenschaftlicher Psychologie genannt. Erstens geht sie von der Selbsterkenntnis des Menschen aus, was auch bedeutet, dass sie den Menschen nicht naturwissenschaftlich verobjektivieren will. Vielmehr geht es ihr darum, Begriffe hervorzubringen, durch die sich der Mensch individuell in Selbsterkenntnis entwickeln kann. Darüber hinaus ergibt sich als ein zweites Element die „Blickrichtung nach unten“ auf die menschliche Organisation und die einzelnen Organe. Diese begrenzt sich nicht nur auf den physischen Leib, sondern beinhaltet auch alles Gewordene in der biografischen Vergangenheit. Aus der geisteswissenschaftlichen Psychologie gehen sowohl bei Hegel als auch bei Rudolf Steiner Ansatzpunkte für ein neues Organismusverständnis hervor, die diesen von der Individualität her zu begreifen vermögen. Der menschliche Leib ist somit nicht für sich gegeben zu betrachten, sondern nur als Ausdruck der seelisch-geistigen Individualität. Außerdem umfasst die geisteswissenschaftliche Psychologie drittens die „Blickrichtung nach oben“, das heißt auf die geistig-seelische Entwicklungsmöglichkeit des Menschen. Das scheint gegenwärtig außerordentlich wichtig zu sein, wo Lebenskrisen und seelisches Leid als Zeiterscheinung gelten können. Das Buch erschließt eine Perspektive auf dieses Phänomen, in der es als Ausdruck eines zentralen Problems der Menschheitsentwicklung am Ende des 20. Jahrhunderts begriffen wird. Das Verhältnis des Menschen zu seinem Ich und damit das Ich-Erleben sind problematisch geworden. Das Ich hat sich im seelischen Erleben in dreifacher Weise isoliert: vom anderen Menschen, von der Natur und letztlich auch von sich selbst.

Es kann zunehmend erlebt werden, dass die eigene Seele, so wie sie ist und sich aus der Vergangenheit heraus entwickelt hat, in sich immer weniger tragfähige (Erlebnis-)Wirklichkeit besitzt. Vor diesem Hintergrund kann seelisches Leid heute sogar als ein realitätsgerechtes Erleben des eigenen Seelenzustandes empfunden werden. Somit könnte in der als problematisch erlebten Innenwelt die Voraussetzung für die Entstehung der Frage gesehen werden, wie das eigene (mitgebrachte) Seelenleben (um-)gestaltet werden könnte. So kann der anthroposophische Schulungsweg zur Praxis werden, wenn das Ich eine geistige Entwicklung vollzieht, durch die neue seelische Erlebnis- und Handlungsfähigkeiten entstehen können. Daraus geht hervor, dass das Problem seelischer Erkrankungen weniger im Bereich des Fühlens und Erlebens zu suchen ist als vielmehr in der Verstandestätigkeit. Daraus ergibt sich die therapeutisch weitreichende Perspektive, die die Beziehung des Ich zum Denken in den Vordergrund stellt.

Eine so verstandene Seelenlehre kann nur dann entwickelt werden, wenn der Mensch sich nicht existentiell von ihr distanziert, sondern bis in seine individuell entscheidenden Lebensfragen hinein mit ihr verbunden bleibt. Dadurch kann sich ein psychologisches Denken entwickeln, das nicht seelenlos ist, das das seelische Leben nicht abstrahiert, sondern ihm gerecht wird und es darüber hinaus sogar gestaltet. Die neue Psychologie wird somit jedem Menschen zugänglich und dienlich sein, der sich in Selbsterkenntnis entwickeln will. Darin kommt jedoch auch die eigentliche Grundaussage des Buches zum Ausdruck: Ich kann die Erkenntnis meines Seelenlebens nicht an die Wissenschaft delegieren! Ich bin selbst aufgerufen, mein Denken so zu entwickeln, dass es zu einer Begriffsbildung fähig wird, die meinem Gefühlsleben geistig wirklich entspricht. Nur so kann das Erleben des eigenen Denkens überwunden werden, welches die eigenen Gefühle und das eigene Leben als ihm entgegengesetzt erlebt – was es zunächst auch ist. Es kommt also darauf an, durch Selbsterziehung und Intensivierung des Denkens Erkenntnismittel auszubilden, die nicht abstrakt bleiben, sondern das Leben erschließen und aus dem Leben erschließbar sind.

Die Begriffe, die aus lebendiger geisteswissenschaftlicher Arbeit hervorgehen, deuten das Seelenleben dann nicht nur, sondern gehören ihm selbst an. Eine solche der Seele entsprechende Erkenntnis kann nur gewonnen werden, wenn sich das Denken nicht mehr nur an äußeren und inneren Gegebenheiten orientiert, sondern eine Eigenständigkeit und Tragfähigkeit entwickelt, wodurch eine unbefangene Urteilsbildung möglich werden kann. Bei dieser Urteilsbildung handelt es sich nicht um eine Bewertung, sondern um geistige Tätigkeit, durch die sich die Seele selbst schafft und erkennt. Um ein Denken auszubilden, das sich nicht weiter an einer äußeren Leitlinie orientiert, bedarf es Mut. Dieser Mut ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Seele von der Naturerkenntnis, in der sie vom Äußeren gehalten wird, zur Geisterkenntnis entwickeln kann, in der sie ein in sich tragfähiges Erleben hervorbringen muss.

Daraus ergibt sich ein Ansatz therapeutischer Arbeit, der dann darin besteht, individuelle geistige Übung und Entwicklung zu ermöglichen und zu begleiten. Und darin, den anderen Menschen in einem Zusammenhang denken zu lernen, aus dem heraus eine situative Urteilsbildung und ein entsprechendes Handeln hervorgehen können. Die therapeutische Wirkung wird dann nicht durch die praktische Anwendung einer feststehenden „Methode“, sondern durch den erkennenden Menschen selbst möglich.

[1] Zweiter  anthroposophischer Leitsatz,  in: Rudolf Steiner: Anthroposophische  Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das  Michael-Mysterium. 1924/25.  GA 26. (Bzw. Wolf-Ulrich Klünker: Selbsterkenntnis – Selbstentwicklung. Zur anthroposophischen Dimension der Anthroposophie. Stuttgart: Freies Geistesleben, 1997, S. 14.)