29. Oktober 2024

Mein Ich-Begriff und meine therapeutische Praxis


Reden ist Silber – Schweigen ist Gold

Ich bin therapeutisch tätig seit 1989, in eigener Praxis seit 1991; gelernt habe ich nach  meiner medizinischen Ausbildung seit 1984 tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und etwas später Verhaltenstherapie. Meine therapeutische Arbeit habe ich in meine Hausarzttätigkeit integriert, so dass ich nieder- und höherschwellige Angebote, von bedarfsgesteuerten Sprechstundengesprächen über die sogenannte psychosomatische Grundversorgung bis zur Richtlinientherapie in Einzel- und Gruppentherapie, anbieten kann. Eine in den 80er Jahren angestrebte Ausbildung zum Psychoanalytiker scheiterte daran, dass mein Lehranalytiker sich zum Dissidenten in der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung entwickelte und aus ihr austrat, als ich bereits viele Stunden auf seiner Couch zugebracht hatte; ich bin heute froh darüber, denn ob ich den materialistischen Denkzwängen der analytischen Zunft entkommen wäre, erscheint mir zumindest zweifelhaft. Auf meinem Weg ist mir dies jedenfalls eher möglich geworden. Und der Lehranalytiker entließ mich mit einem intensiv erfahrenen Wissen über die Bedeutung der verlässlichen Beziehung und der spiegelnden Zuwendung. Das war ein fundamentaler Baustein meiner aufzubauenden therapeutischen Erfahrung.

Schon damals war der noch undeutliche Zielpunkt meiner therapeutischen Tätigkeit eine ‚Ich-Stärkung‘. Allerdings unter einem Ich-Begriff, der von der Funktionalität des Ich zwischen Über-Ich und Es ausgehend die Ich-Funktionen im Fokus hatte, um Triebaufschub und Sublimierung zu fördern sowie Realitätssinn und Affektregulation zu ermöglichen.

Ich glaube, die besten Interventionen in meiner psychotherapeutischen Tätigkeit (1990 bis jetzt und auf weiteres) waren und sind die unterlassenen.

Zu den unangenehmsten Minuten im therapeutischen Gespräch gehören die irgendwie verstörten, vorsichtshalber stillen Blicke eines Patienten nach einer Anmerkung von mir, die er nicht verstanden hat und die nichts klärt oder bewegt. Der dahinter zu vermutende Denkprozess ist höchstens ein fruchtloses Rätseln über meine Intention.

Das habe ich nicht selten erlebt, solange ich Bestätigung meiner Theorien erwartet habe und hoffte, dass die Deutung aus diesem Theorievorrat den jeweiligen Patienten neues Verstehen seiner Reaktionen, seiner Wünsche, und seiner Frustrationen ermögliche. Hat auch manchmal anscheinend geklappt.

Aber was hat denn da wirklich gewirkt? Deutung ist die angeblich hochwertigste Intervention in der psychoanalytischen Technik, die dem Patienten eine Erkenntnis der ihm selbst verborgenen, unbewussten Zusammenhänge ermöglicht und damit Ich-Zugang zum Es vorbereitet. Leider sind die meisten Deutungen, von denen ich gehört und gelesen habe, hochgradig artifizielle Konstrukte, aus einem festen Vorstellungsset über das Triebleben oder die Objektbeziehungen abgeleitet; und wer diesen nacheifert, muss auch lernen, sich eine Menge Erfolg vorzumachen, muss es fertig bringen, stagnierende Behandlungsprozesse viele Jahre fortzusetzen, sollte sich im Hinblick auf sein eigenes Unbewusstes beständig supervidieren lassen, um nicht per unbewusste Gegenübertragung in ein verhängnisvolles Mitagieren zu geraten; schließlich sind die besagten Vorstellungen auch für das Selbstbild des Therapeuten verbindlich. Umstritten war oder ist in der analytischen Szene, ob der Analytiker wirklich neutraler Spiegel sein kann, der das Unbewusste seines Patienten lesen und zurückspiegeln kann, oder ob nicht seine nonverbalen Signale gerade das dem Patienten signalisieren, was er ihm nicht sagen will oder sollte: Sympathie, Antipathie, eigenes Begehren, Machtansprüche, eigene ungelöste Konflikthaftigkeit – auch gegenüber seiner Fachgesellschaft. (Dass diese Vorbehalte auch für einen Supervisor gelten sollten, ist klar, aber nicht Thema für den Supervidierten. Es gibt da eine Hierarchie der Wissenden, die faktisch über solche Zweifel erhaben sind, und die Unterwerfung gehört zur analytischen Sozialisierung).

Ich habe jedenfalls keine Supervision in Anspruch genommen (wohl öfter die Intervision von ebenfalls tätigen Therapeuten ohne Machtanspruch).

Eine beträchtliche innere Arbeit war es, sich von den Denkzwängen des Gutachterverfahrens zu lösen: Zu jedem in Langzeittherapie zu behandelnden Patienten war ein Bericht an den Gutachter zu schreiben, der neben dem Krankheitsgeschehen eine genaue Herleitung von Diagnose, Behandlungsverfahren und -technik und Prognose aus der tiefenpsychologischen Krankheitstheorie, und später aus der ‚Operationalisierten psychodynamischen Diagnostik‘ enthielt, allesamt Systeme mit einem Zwang zur Oberflächlichkeit. (Ausgerechnet ein Herr Spahn als Gesundheitsminister hat diesem Zwang, der sich zur Verhinderung vieler notwendiger Therapie eignete, Zügel angelegt, indem er dafür sorgte, dass Gruppentherapien nur noch beantragt aber nicht mehr begründet werden müssen.)

Voller Respekt für das theoretisch begriffene Ich der Patienten habe ich, ausgehend von der erfühlten und erkannten Bedeutung der verlässlichen sympathiegetragenen therapeutischen Beziehung – unter flexibler Nutzung der Richtlinien und der Therapiemöglichhkeiten im Rahmen der Sprechstunde – wiederholt Patienten ‚adoptiert‘, bei denen sich früh ein langjähriger Bedarf an haltgebender Beziehung abzeichnete: Zwei Beispiele von vielen sind ein Musiker nach zwei psychotischen Episoden, ein Handwerker nach Suizid seines Vaters mit einer großen Bitterkeit dem Leben gegenüber; diese beiden sind jeweils über fünfundzwanzig Jahre meine Patienten, mit Krisen aber ohne psychotische Episode der eine, ohne Suizid der andere. Dazu – nicht ganz so lange dauernde – begleitete Verläufe mit episodisch wechselnder Intensität, in denen offensichtlich meine Anwesenheit und mein Interesse wesentliche Kräfte geweckt haben, und eben nicht meine theoriebegründeten Interventionen.

Nach kurzen Versuchen mit klassischen Entspannungstechniken, Entspannungshypnose, Übungsaufgaben habe ich derlei Anleitung verlassen, weil sie überall zu finden ist für jeden der sie sucht und weil mir das manipulative Element darin zuwider wurde. Eine reelle Entspannung stellt sich ein, wenn sie ins Leben passt und nicht (mehr) vom angestrengten, suchenden, frustrierten Denken gestört wird. (Wer Anthroposophie betreibt, atmet anders, ohne das extra zu üben, wer Irrtümer überwindet ist wohl genau auch auf diesem Weg).

Ein wichtiges Resultat hatte die Beschäftigung mit Ich-Psychologie, welche mich von dem Kampf gegen Abwehr befreite, die ich anfangs als Therapiehindernis betrachtet hatte. Seitdem hatte ich Abwehr als eine nützliche Ich-Funktion und damit Leistung des Ich wahrgenommen, so dass ich wesentlich entspannter Therapiefortschritte und -Stagnationen miterlebte, durch Wahrnehmung der in den Abwehrmechanismen liegenden kreativen Leistung der Patienten einer Ich-Wahrnehmung deutlich näher kam. Und eine Enttäuschung, wenn Patienten nach dem Kennenlernen nicht meine Behandlung wünschten, trat auch nicht mehr auf.

Durch die Vermischung von analytischer Denkweise aus dem Vorrat an psychoanalytischer und Ich-psychologischer Begrifflichkeit mit verhaltenstherapeutischer Beobachtung fiel eine Menge an normativem Ballast ab, so dass ich zunehmend beobachtender Partner für Patienten wurde, allerdings ohne die festen Schemata und Zielvorgaben einer Kognitiven Verhaltenstherapie.

Ein Schwerpunkt, fast immer gerne erlebter Höhepunkt meiner Therapeutentätigkeit sind die Gruppensitzungen: In mehreren Therapiegruppen (‚Forschungsgruppen Leben‘) – in Zeiten harter Arbeit vier Gruppen, jetzt im Alter noch zwei – erfahre  ich sehr viel vom Leben und Denken der Patienten, erlebe ich die emotionale Wirkung von Miterleben, von Resonanz und Spiegelung, von Anregung des Denkens und Korrektur vormals fixierter Urteile und kann ahnungsweise die Bildung und Entwicklung einer Gemeinschaft im Zusammenwirken der schon alten und der immer neuen Konsensentwicklung anschauen. Ein Feld für die Schulung meines Ich-Sinnes, welcher mir mehr Wahrnehmung und den Patienten offenbar zunehmend das Empfinden von Wahrgenommen-werden ermöglichte.

In meinem Therapeutenleben und -denken blieben viele Fragen ungeklärt. Die miterlebte Anhäufung von anscheinend misslingendem oder gefährdetem Leben, das Empfinden einer erzwungenen Oberflächlichkeit in den unvermeidlichen Behandlungstheorien stellte mir die Frage nach dem eigenen Leben und Denken, nach Wirksamkeit und Sinn, neu, und ich hatte beträchtliche Mühe damit. Ich hatte schon früh spürbar eine Entscheidung zu treffen zwischen einer pragmatischen Optimierung (Umsatz und Einnahmen, Arbeitszeit, Familienzeit, verbesserte Routinen, festes therapeutisches Selbstbild) mit Verzicht auf gedankliche Anstrengung einerseits und dem Eingeständnis der Unvollkommenheit und weiterer Suche nach Erkenntnis wirklicher Zusammenhänge andererseits.

Und dann kam die Anthroposophie. Und zwar, weil eine Schule für meine Kinder zu finden war. Dort hörte ich wie von einem fremden Land von Karma, Reinkarnation, höherem Ich der Kinder und ließ mich – skeptisch – darauf ein. Meine anfängliche Bereitschaft zu gläubiger Übernahme von Lehrinhalten stieß sich an logischen Problemen mit den kennengelernten Anwendungen dieser Lehre, aber die ‚Philosophie der Freiheit‘, seit Jahren als Geschenk ungelesen in einer Schublade, tat nun ihre Wirkung. Mit der Frage, was von der dann immer weiter studierten Anthroposophie ich an eigener Erfahrung und eigenen Denkergebnissen prüfen kann, habe ich mich um anthroposophische Medizin, Naturwissenschaft, Pädagogik, Psychotherapie bemüht, besuche eine Hochschulgruppe (Selbsterkenntnis im geistigen Weltzusammenhang) und lasse mich herausfordern. Vieles bleibt mir bisher verschlossen, aber: Ich erkenne die zentrale Bedeutung des Denkens, des Denkens über das Denken, der Qualität dieses Denkens als Quelle von Wahrheitsgefühl und Selbstgefühl; ich habe aufgehört, Triebe und Emotionen als die heutzutage entscheidenden Kräfte menschlicher Entwicklung zu betrachten. Und stattdessen sehe ich diese Kräfte als Werkzeuge eines jeden nach Entwicklung strebenden Menschen an, die nicht dazu da sind, sie per Selbstverwirklichung zu heiligen, sondern dazu, Bewusstheit über ihre  Bedeutung anzuregen, sich als Ich darüber hinaus zu entwickeln. Und mir scheint, ich entdecke immer deutlicher die fundamentale Wirkung des irregeleiteten (materialistischen, sozusagen antispirituellen) Denkens als Quelle einer tiefen Verwirrung des Selbstgefühls, vielleicht sogar als Treiber für Angst, Depression, Demenz, indem es ein beständiges Gefühl des Mangels und eine beständige Suche nach Wahrheitssurrogaten und effektiver Selbsttäuschung erzeugt. Damit versuche ich, meine Wahrnehmung der individuellen Krankheitsschicksale zu erweitern zu einer Wahrnehmung von überindividuellen Entwicklungen: Depression als kulturelles Phänomen aus der untergründigen kollektiven Wahrnehmung des Irrens, Angst aus der untergründigen Wahrnehmung der kognitiven Sperren auf den  Wegen zu Wahrheit und Sinn; vielleicht gar eine suizidale Menschheit?

Entscheidende Studien waren schon unmittelbar nach dem ersten Erscheinen 2011 Wolf Ulrich Klünkers ‚Empfindung des Schicksals‘. Dieses Buch habe ich in den letzten zwei Jahren noch einmal anhand seiner Vorlesung in podcast-artigen Aussendungen der Delos-Forschungsstelle durchgearbeitet (die Weiterentwicklung meines Karmaverständnisses und meiner Aufmerksamkeit für die Distanz zwischen Bewusstsein und Leben und für die Berührungserlebnisse zwischen beiden, den Begriff vom peripheren Ich, der Außenwelt im Leben, die nachtodlich zur Innenwelt wird). Aus dem Bereich der psychoanalytischen Wissenschaft die beiden Bücher des Psychoanalytikers Daniel N. Stern über ‚Der Gegenwartsmoment‘ und ‚Veränderungsprozesse‘ (den Veränderungsmoment als Aufwachmoment durch Augenblicksbegegnung im Unerwarteten erkennen, das spontan erlebte Wahrnehmen des Anderen und seiner Wahrnehmung meines Ich im Spiegel seiner Wahrnehmung meines Erkennens). Und in den anthroposophischen Grundlagen die Hochschulmantren und die Gruppengespräche dazu (Einordnen der eigenen Selbsterkenntnis in geistige Entwicklung).

Extrakte meiner Arbeit sind erstens mein inneres Gebot der Anwesenheit durch Interesse und Verfügbarkeit, zweitens die Bereitschaft das bewusst Wahrgenommene spiegelnd zu kommentieren, und drittens das vielfache Erleben der Bedeutung dieser Spiegelung (und der Spiegelung der Spiegelung im kindlichen Erleben) als frühes Beziehungserleben und Bewusstseinskeim. Das Schicksal solcher frühen Erfahrungen mit einer (mehr oder – nicht selten – weniger gelingenden) Beziehung hat weitreichende Auswirkungen in der seelischen Entwicklung. Ebenfalls zu den Früchten gehört die Entwicklung eines Ich-Begriffs, der offen wird für die vorgeburtliche und die nachtodliche Gestalt des Denkens als Formkraft des Leibes und Gestalterin der Lebensmöglichkeiten.

Daher das zitierte Sprichwort, bei dem ich wirklich an Mond und Silber sowie an Sonne und Gold denke: Reden ist Silber – Schweigen ist Gold – i.e. das direkt zu Herzen gehende gelingende Verstehen, idealerweise in einem ‚Gegenwartsmoment‘, der alles vorangegangene Gesprochene und Erlebte in sich birgt, ohne Worte.

Wenn ich Spuren dieser Formkraft des Denkens in meinem Leben und Erleben zu fassen bekomme, vielleicht indem ich aus den Lebenswirkungen auf die Kräfte schließe, die in meinem vorgeburtlichen Denken wirken, dann kann ich wohl aufmerksamer werden für dieselben Vorgänge im Leben meiner Patienten. Ich warte gespannt auf die Fortsetzung der soeben begonnenen Reihe von kommentierten Lesungen des heilpädagogischen Kurses von W.U.Klünker. Denn in der Teilnahme und Durcharbeitung will ich eine Vertiefung meiner Denkkraft  mit Wirkung auf die Verfeinerung meines Ich-Sinnes erreichen.

 

Reimar Menne, Gelsenkirchen