11. September 2024

Ich in Dir – Du in mir. Zur Entstehung von Entwicklungsräumen in einer zwischenmenschlichen Beziehung.


von Charline Fleischhauer

 Einleitung

Die zwischenmenschliche Beziehung kann als ein wesentlicher Bestandteil menschlichen Lebens gelten. Sie finden und erfahren zu wollen, könnte möglicherweise als der Wunsch nahezu eines jeden Menschen angesehen werden. Dennoch erweist es sich oftmals als Herausforderung, an den anderen Menschen wirklich heranzukommen und sich von diesem erreicht zu erleben. Die Frage stellt sich nach einer Möglichkeit, die eigene Beziehungsfähigkeit so zu entwickeln, dass daraus eine Beziehung erwachsen kann, die die eigene Sehnsucht tatsächlich berühren oder sogar befriedigen kann.

Der Text beschäftigt sich vor diesem Hintergrund mit der Darstellung einer zwischenmenschlichen Beziehung und kann darüber hinaus auch als Erkenntnisbemühung gelten, diese zunehmend verstehen und gestalten zu wollen. Es macht den Anschein, als ginge die Bedeutung einer wirklich ernstgemeinten zwischenmenschlichen Beziehung weit über eine positive Wirkung auf die eigene seelische Verfassung hinaus. Vielmehr soll die Beziehungsbildung auf ihre zwischenmenschliche Wirklichkeit hin untersucht werden, in der der andere Mensch in mir und ich im anderen entstehe. An einigen Stellen werden hierfür Bezüge zur anthroposophischen Menschenkunde hergestellt, die meines Erachtens wichtige Ansatzpunkte bietet, um die zwischenmenschliche Beziehung in ihrem Entwicklungspotenzial und in ernstgemeinter Wahrheitsorientierung betrachten zu können.

Intention

Durch die Betreuung und Begleitung eines Menschen hat sich mit der Zeit eine Beziehung entwickelt, die ich in verschiedener Hinsicht als sehr wertvoll erachte. Um keinen Namen nennen zu müssen und dennoch die entstandene Nähe zu ihr mit einzubeziehen, werde ich sie Omi nennen. Diese Bezeichnung entstand bereits vor dem Verfassen dieses Textes und soll natürlicherweise darin einfließen.

Während unserer gemeinsam verbrachten Zeit stellte ich zunehmend fest, dass wir diese nicht nur „totschlagen“, sondern sich etwas in unserer Begegnung vollzieht, durch das wir uns aneinander entwickeln. Ich bemerkte einen Zusammenhang zwischen meiner Haltung ihr gegenüber und meiner Beschäftigung mit der geisteswissenschaftlichen Psychologie und der anthroposophischen Menschenkunde, die eng miteinander verbunden zu sein scheinen. Diesem Verhältnis von Begriff und Beziehungsentwicklung möchte ich in diesem Text näherkommen. Der Bericht versteht sich somit nicht allein als Darstellung eines abgeschlossenen Projektes, sondern ebenfalls als der Versuch, diese Relation herauszuarbeiten. Somit sollen die eigenen Erfahrungen nicht (nur) reflektiert, sondern vielmehr Begriffe entwickelt werden, die meinem Erleben des anderen Menschen und der Beziehung wirklich entsprechen.

Das bedeutet, dass dieser Bericht in gewisser Hinsicht selbst als Teil des Projekts zu betrachten ist (und nicht nur dessen Dokumentation und Reflexion darstellt). Denn die in diesem Sinne verstandene Begriffsbildung beschreibt es nicht nur, sondern stellt einen ihm wesentlichen Teil erst her – nämlich die Einbeziehung der Wirkung des eigenen Denkens auf die Beziehungssituation.

Im Grunde geht das Projekt aus zwei Hauptintentionen hervor. Erstens wollte ich unser Zusammensein und die Wirkung, die daraus hervorgeht, nicht nur weiterhin fühlen, sondern zunehmend mehr begreifen lernen. Diese Intention entstand weniger aus einem bewussten Entschluss heraus als vielmehr aus einem wachsenden Interesse für das, was in und zwischen uns wirkt, was sich in meinem Erleben immer deutlicher zeigte. In einem ersten Schritt wollte ich also eine Bewusstseinsform von der Omi und uns gemeinsam ausbilden. Mit der Zeit bemerkte ich, dass das Bewusstsein, das sich langsam formte, auf die Situationen zurückwirkte, die wir miteinander verbrachten. Auf diesen Zusammenhang wird im weiteren Verlauf des Berichts noch näher eingegangen. An dieser Stelle, wo es um die Intentionsbildung geht, ist es von Bedeutung, dass ich außer der Wirkung auf unsere Beziehung auch eine Wirkung auf mein (Selbst-)Verständnis des Menschen bemerken konnte. Es hat sich also gezeigt, dass die Denkentwicklung, die sich durch unsere Begegnung vollziehen konnte, sich über diese hinaus als wirksam erwiesen hat; sogar bis in die Entwicklung meiner individuellen Lebensfragen hinein. Daraus ergibt sich die zweite Hauptintention: Unsere Beziehung nicht nur für sich, sondern in einem größeren Gesamtzusammenhang zu betrachten. Durch das hohe Alter der Omi kommt die Frage der nachtodlichen Existenz des Menschen im allgemeinen und von ihr im individuellen Sinne unmittelbar mit hinein. Mein Anliegen ist es, eine Erlebnisfähigkeit für sie und ihre Situation auszubilden, die diese Dimension mit einzubeziehen vermag.

Damit verbunden ist zum einen die bereits erwähnte Frage nach der Bedeutung und Wirksamkeit meiner anthropologischen Begriffe auf die Betreuungssituation und zum anderen die Frage, wie ihre Situation des hohen Alters unter der Perspektive der Ich-Entwicklung zu betrachten ist. Diesen Fragen kann innerhalb dieses Rahmens selbstverständlich nur ganz anfänglich nachgegangen werden. Vielmehr geht es mir darum, die Erkenntnis- und Entwicklungsmöglichkeiten erkennbar werden zu lassen, die sich für mich aus der Beziehung heraus ergeben.

Die Betreuungssituation

Die Omi und ich kennen uns seit nunmehr zwei Jahren und sehen uns meist dreimal die Woche. In der gemeinsamen Zeit gehen wir immer, wenn es das Wetter zulässt, draußen spazieren. Außerdem gehen wir einkaufen oder ich lese ihr etwas vor, begleite sie bei (Arzt-)Terminen und denke mir Mittel und Wege aus, die ihr den Alltag erleichtern. Mit der Zeit bekam ich jedoch zunehmend das Gefühl, dass dieses scheinbar zentrale Motiv der Alltagsbegleitung und -hilfe nur das Mittel ist, um an das Wesentliche heranzukommen. Dieses Wesentliche zeigt und entwickelt sich nur an den konkreten und oftmals scheinbar banalen Situationen und geht dann aber über diese hinaus.

In einem ersten Schritt soll jedoch zunächst näher auf die Omi eingegangen werden. Sie hat bereits ein Alter von nahezu 99 Jahren erreicht. Es scheint, als würden bei ihr zunehmend diejenigen physischen und seelischen Fähigkeiten schwinden, die nicht schwellenfähig sind. Das bedeutet, dass die Lebensgrundlagen und -beschäftigungen, die im Diesseits oftmals eine Rolle spielen, vermehrt an Funktionsfähigkeit bzw. an Bedeutung verlieren. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass sie bereits mehr über die Schwelle hinüber ist als noch im diesseitigen Leben. Das äußert sich in verschiedener Weise: Beispielsweise hat sie keinerlei Interesse an Dingen, die erst zukünftig eintreffen oder an abstrakten Überlegungen. Es scheint, als zähle für sie alleinig der jetzige Moment, in dem sie sich befindet. Mich darauf in ihrer Gegenwart immer wieder zu besinnen, hat bei mir allmählich eine größere Aufmerksamkeit für das ausgebildet, was im Augenblick da ist. Sei es der Himmel über uns, an dem wir die Wolken wahrnehmen und uns an den gelegentlich durchscheinenden Sonnenstrahlen erfreuen oder der Füllstand des Rheins, den wir kontinuierlich nachverfolgen oder das Betrachten einer riesigen Edelkastanie, unter der wir lange verweilen, ohne dass Langeweile aufkommt.

Daneben haben solche Dinge wie Mahlzeiten oder Besitztümer für sie keinen besonderen Wert (wobei davon einige wenige Gegenstände auszuschließen sind zu denen sie eine wirkliche Verbindung hat – beispielsweise eine Perlenkette oder eine selbstgewebte Wolldecke ihrer Tochter).

Außerdem zeigt sich die Nähe oder der Übertritt über die Schwelle an der starken Einschränkung ihrer sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit. Sie nimmt ihre Umgebung nur noch stark verschwommen wahr, wodurch alleinig eine Orientierung im Raum, jedoch kein wirkliches Erkennen mehr möglich ist. Auch lässt die Tastfähigkeit in ihren Fingern vermehrt nach, die sich für sie oftmals taub oder kalt anfühlen, obwohl sie von außen eine angenehme Temperatur haben. Manchmal kommentiert sie dieses Erleben selbst mit den Worten: „Da geht das Leben raus“.

Ein weiteres Phänomen, das sich bei ihr zeigt, ist ihre schwindende Erinnerung. Sowohl kurz als auch lang in ihrer Biografie zurückliegende Erlebnisse erinnert sie nur noch sehr eingeschränkt bis gar nicht. Nur in einigen Momenten gelingt ihr eine Anknüpfung an ihre Erinnerungen. In mir entstand dadurch die Frage, was als Kriterium dafür gilt, dass sie sich erinnert. Ich habe den Eindruck, dass es sich um Situationen handelt, die sie in individueller Weise angesprochen und bewegt haben. Das kann von außen betrachtet wie etwas sehr Kleines scheinen, das sie erinnert, wohingegen andere spektakuläre Erfahrungen wie ausgelöscht sein können. Bei einer solchen Erfahrung, die sie sehr berührt, kann es sich beispielsweise um die genaue Auseinandersetzung mit einem Baum handeln, die wir zusammen gemacht haben. Ich weiß, dass sie ein großes Interesse an Bäumen hat, weshalb ich ihr diese während der Spaziergänge oftmals versuche, erlebbar zu machen. Dann ziehe ich die Äste weit hinunter, woraufhin sie sie ganz nah betrachtet oder deren Blüten riecht. Oftmals nehmen wir dann Blätter und Früchte mit, um sie mithilfe ihres Baumlexikons zu bestimmen, woraus ich ihr dann vorlese. Wenn ich dann einige Zeit später etwas über den Baum erzähle oder wir erneut daran vorbeilaufen, dann erinnert sie sich oftmals daran; manchmal sogar an die genaue Bezeichnung des Baumes.

Außerdem ist es sehr auffallend, dass ihr aus ihrer biografischen Vergangenheit meinem Eindruck nach nichts so präsent ist wie ihre Kindheit. Von anderen Teilen ihrer Biographie erinnert sie auch einiges, muss aber, wenn sie davon erzählen will oder wenn ich sie nach etwas frage sehr angestrengt überlegen, wirkt unsicher und stößt an Grenzen, an denen sie nicht weiter kommt. Bei Erzählungen aus ihrer Kindheit ist das anders. Da macht es den Anschein, als sei sie dieser im Erleben ganz nah. Sie erzählt dann von dem Hof, auf dem sie und ihre Familie lebten, von der Linde, in der sie oft kletterte und (da sie im Jahre 1925 geboren wurde) von den Kutschfahrten und den Pferden, die die Kutsche zogen, von denen sie auch ohne überlegen zu müssen die Namen nennt.

Dieser Zusammenhang von der Nähe zur eigenen Kindheit, die im hohen Lebensalter entsteht, erscheint mir sehr interessant und wichtig, um einem Verständnis für die Schwelle und dem Übergang in die nachtodliche Existenz näherkommen zu können. Im Folgenden soll für den Versuch einer solchen Annäherung das menschliche Gefühlsleben betrachtet werden.

Das Gefühl

In einem Vortrag vom 10. Oktober 1918 entwickelt Rudolf Steiner einen Gefühlsbegriff, der die oben angeführte Erfahrung mit der Omi ganz neu beleuchten kann. Darin beschreibt er die Subjekt-Objekt-Relation im Gefühl. In der Wahrnehmung und im Denken beziehe ich als Subjekt mich auf ein Objekt, welches mein Gegenüber bildet. Rudolf Steiner führt aus, dass das beim Gefühl anders ist. Denn da ist das Objekt nicht etwa dasjenige, auf was oder wen sich mein Gefühl bezieht – beispielsweise der Baum oder der andere Mensch. Objekt meines Gefühls, also das, was ich wahrnehme, bin ich selbst in meiner biographischen Vergangenheit von meiner Geburt bis zum gegenwärtigen Augenblick; und das Subjekt bin ich als Fühlender, der sich vom gegenwärtigen Augenblick bis zu seinem Tod fühlt. Ich selbst bin somit sowohl Subjekt als auch Objekt des Gefühls. Indem beide in meinem Erleben zusammenkommen, entsteht im Lebensmoment das Gefühl.[1]

Wird diese Perspektive weitergeführt, so ergeben sich in der Biographie unterschiedliche Gewichtungen des Subjekts und des Objekts im Gefühl. Als Kind ist der Zeitraum von meiner Geburt bis zum jetzigen Moment erst verhältnismäßig kurz und die biographische Zukunft bis zum Tod noch sehr lang. Entsprechend ist das kindliche Gefühl dadurch charakterisiert, dass darin ein hoher Anteil Fühlendes und nur ein geringer Anteil Gefühltes beinhaltet ist. Im Laufe der Biografie kehrt sich dieses Verhältnis dann um: Das Lebensgefühl eines Menschen hohen Alters enthält nur einen geringen Anteil Fühlendes, wohingegen es in hohem Maße Gefühltes umfasst. Die biografische Entwicklung des Gefühls läge demnach in seiner zunehmenden Objektivierung. Doch inwiefern könnte dieser Zusammenhang bei der Frage weiterführen, warum die Omi eine spürbare Nähe zu ihrer Kindheit empfindet? Wird die Situation der Geburt als derjenige Moment begriffen, bei dem sich Subjekt und Objekt im Gefühl trennen bzw. dann entstehen, so kommt darin implizit zum Ausdruck, dass sie vorgeburtlich identisch waren. Diese Gefühlsidentität wird sich wiederkehrend zum Zeitpunkt des Todes einstellen – auch wenn das Gefühlsleben im oben gemeinten Sinne (bestenfalls) eine Entwicklung im Erdenleben durchlaufen konnte. Die Nähe zum Lebensgefühl der Kindheit (und zu den damit verbundenen Erlebnissen) könnte sich möglicherweise aus der Nähe der Gefühlsidentität von Subjekt und Objekt ergeben, der sich am Ende des Lebens angenähert wird. Vor diesem Hintergrund könnte gesagt werden, dass sie sich selbst zunehmend in ihrer zukunftsgerichteten Gefühlsidentität fühlt, wodurch ihr eine Einbeziehung dieser Gefühlswirklichkeit aus ihrer Vergangenheit möglich wird. Somit kann die Nähe zu ihrer eigenen Kindheit sogar als ein realitätsgerechtes Erleben der Schwellennähe empfunden werden.

Die Wirksamkeit der Schwelle im Leben

Durch eine derartige Zusammenhangsbildung kann meines Erachtens die eigene Sensibilität für die Wirksamkeit der Todesschwelle, welche ins Leben hineinwirkt, geschult werden. Es wäre fraglich zu meinen, dass der Übergang vom Erdenleben in den Tod ein Umschlagpunkt innerhalb eines einzigen Momentes, also der Todeszeitpunkt selbst ist. Dem stünden alleine etliche Erfahrungsberichte aus der Hospizarbeit und der Sterbebegleitung entgegen, die häufig von besonderen Stimmungen oder Situationen erzählen, die im Zeitraum vor dem Tod eines Menschen gemeinsam mit ihm erlebt wurden. Meiner Erfahrung nach kann auch die oben genannte Verbundenheit zur Kindheit als ein solches Element gelten, durch welches die nachtodliche Wirklichkeitsschicht bereits im Leben erlebbar wird. Durch das Bemerken dieses Zusammenhangs entstand bei mir die Frage, ob sich dieses Ausstrahlen auch in anderen Situationen zeigt. Letztlich zielt diese Frage auf eine Wirklichkeitsdimension ihrer Individualität, die sich nur geistig erfassen lässt, weil sie sich nicht aus ihrer biografischen Vergangenheit heraus erschließt. Dazu ist es notwendig, sie in einem Zusammenhang denken zu lernen, aus dem heraus eine situative Urteilsbildung möglich wird. In anderen Worten: Ich muss mein Denken so entwickeln, dass es fähig wird, nicht nur den Menschen mitzubekommen, der sie bereits ist, sondern sie in ihrem Ich-Punkt zu erreichen, sodass sich ihre geistige Individualität in meiner Empfindung ausspricht.

Denn die Frage, die sich stellt, lautet: Wo ist sie anzutreffen, wenn nicht in der Erinnerung oder der sinnlichen Wahrnehmung? Durch meine Erkenntnisbemühung, sie wirklich begreifen und erleben zu wollen, konnte sich dafür mit der Zeit eine Empfindung ausbilden. Die Frage nach dem „Wo“ meint hier nicht ihre physische Erscheinung, sondern ihre Anwesenheit (oder ggf. auch Abwesenheit) im Lebensaugenblick. Ich habe bemerkt, dass ihr Vermögen an ihre Fähigkeiten anknüpfen zu können, (wie bspw. ihre Kognition, Erinnerungsfähigkeit, Sprach- und Orientierungsvermögen) stark von meiner Präsenz abhängt, mit der ich in der Situation anwesend bin und ihr begegne. Gelingt es mir, sie im oben gemeinten Sinne mitzudenken, ermöglicht ihr das ein „Dabeibleiben“ bis in komplexe Gedankenzusammenhänge oder herausfordernde Situationen hinein.

Eine solche Herausforderung stellt für sie beispielsweise ein Arztbesuch dar, für den wir mit dem Taxi fahren und durch große fremde Gebäude laufen müssen, woran sich dann Wartezeiten und Behandlungen anschließen. So ein Ereignis kann zu enormer Verwirrtheit führen, die unter Umständen teilweise längerfristig anhält. Gemeinsam machten wir die Erfahrung, das selbst solche Situationen für sie tragbar oder sogar bedeutend werden, wenn es mir gelingt, ein Bewusstsein von ihr und der Situation auszubilden, wodurch sie sich selbst im Gesamtzusammenhang halten kann. Dabei handelt es sich meistens um nichts Außerordentliches. Ich muss es nur dazu bringen, selbst zur Gelassenheit zu gelangen, dass mir ein ruhiger und aufmerksamer Umgang mit ihr möglich wird. Dadurch fällt mir im jeweiligen Moment etwas Passendes ein, das gesagt oder getan werden will. Diese Präsenz zeigt sich als Voraussetzung dafür, dass sie selbst anwesend sein und bleiben kann. Dadurch scheint es so, als brauche sie die Partizipation des anderen Menschen an ihr, um zu einer eigenen Bewusstseinsbildung zu gelangen. Das würde jedoch bedeuten, dass sie nicht (mehr) vorrangig durch ihre körperliche und seelische Konstitution lebt, sondern vielmehr aus der Entwicklungskraft, die aus realer, zwischenmenschlicher Wirklichkeit hervorgeht.

Wird kein Zugang zu geistiger Realität möglich, welche als ihre einzige tragfähige Lebensgrundlage gelten kann, so sind Ich-Auflösung und Degeneration die Folge. Das wird spürbar, wenn wir über einige Tage nicht in Kontakt waren. Wenn ich sie montags nach dem Wochenende oder nach Urlauben wiedertreffe, finde ich sie oftmals wie weggetreten, entkräftet und einsam vor. An manchen Tagen spricht sie dann sogar aus, dass ihr alles sinnlos erscheine und vorbei sei und sie nicht mehr wolle. In dieser Situation besteht meines Erachtens die Notwendigkeit der Differenzierung zweier Aspekte. Selbstverständlich geht es bei einem fast 99 Jahre alten Menschen nicht darum, ihn weiterhin im Leben halten zu wollen. Der Wunsch nach einer allmählichen Vollendung des irdischen Lebens ist dann plausibel und realitätsnah. Jedoch macht die Gesinnung, mit der das geschieht, dabei meines Erachtens einen entscheidenden Unterschied. Der Mensch kann das Ende seines irdischen Lebens in der Gesinnung erleben, dass er sich sagt: Ich will mein Leben nicht mehr leben, weil es nichts mehr gibt, das lebenswert ist. Alles geht zu Ende und nun auch ich. Eine vollkommen andere Gesinnung wäre diese: Ich lebe mein Leben, doch ich merke, dass diesem jetzt etwas anderes entspricht. Ich weiß nicht, was es ist, wonach ich mich sehne, doch ich bin bereit, ihm zu begegnen.

Somit geht es mir um eine Anknüpfung an ihr eigenes Leben, wodurch sich der Wille, in das Nachtodliche überzugehen, durch sie selbst entwickeln kann. Es geht mir also nicht darum, dass sie sterben kann, sondern darum, dass sie den Raum, die Zeit und die Begleitung bekommt, durch die ein ihr entsprechender Tod möglich werden kann. Wenn ich sie also in einem oben geschilderten Erleben der Sinnlosigkeit vorfinde, liegt mir etwas daran, sie aus der Isolation heraus zu befreien. Das kann nur gelingen, wenn ich im Grunde nichts von ihr will. Ich will nicht, dass sie mir Fröhlichkeit entgegenbringt, weil sich die Zeit mit ihr dann einfacher vertreiben lässt. Vielmehr entsteht durch das Verständnis von ihr, dass sie darauf angewiesen ist, geistig mitbekommen zu werden, ein tiefes Mitleid für ihre Situation und das daraus resultierende Erleben. Von dieser entwickelten Empfindung des Mitleids aus kann dann der Eindruck einer Diskrepanz entstehen zwischen dem, was ihr Erleben im Moment umfasst und dem, wo sich ihr individueller Wille befindet. Sie erlebt in ihrer Situation nichts Lebenswertes mehr – was bei ausbleibender geistiger Realität in ihrer Umgebung sogar realitätsgerecht erscheint; dennoch empfinde ich in ihr eine tiefe Sehnsucht, die sich diesem Erleben im Grunde nicht hingeben kann. Durch das Bemerken und das Ernstnehmen dieser leisen Sehnsucht kann mir eine Idee einfallen, die klein genug ist, um sie in ihrem entkräfteten Zustand nicht zu überfordern und groß genug, um ihre Sehnsucht mit einzubeziehen. Auch das ist dann nichts Spektakuläres, aber etwas, das sich dann als möglich erweist, uns in Tätigkeit versetzt und darüber verbindet. Wenn wir in dieser Weise einen möglichen Schritt nach dem anderen realisieren, kann sich ihre isolierte Innenwelt allmählich wieder für die Außenwelt und durch diese für ihre eigene Sehnsucht öffnen.

Der Mensch, dem ich an einem solchen Tag bei meiner Ankunft begegnet bin, ist dann ein vollkommen anderer geworden, wenn ich wieder gehe. Wie sich herausstellte, nehme nicht nur ich das in dieser Weise wahr. Eines Tages hat mich eine andere alte Dame angesprochen, dass es ihr ein Anliegen sei, mir mitzuteilen, dass sie die Frau, die ich immer besuche, ganz anders erlebe, wenn ich bei ihr war. Sie sei dann ganz beseelt und lebendig.

Daran kann sich die Bedeutung unser Beziehung zeigen, die dann darin liegt, dass eine Entwicklung aneinander ermöglicht wird, die zutiefst zu einem selbst gehört. Eine in diesem Sinne gemeinte Entwicklung, die ich an mir selbst durch sie vollziehen konnte, bezieht sich auf mein Verhältnis zur Natur. Durch mein Interesse an ihr bemerkte ich, wie sie die Natur wahrnimmt, was ich dann anfänglich miterlebte, wodurch sich meine eigene Erlebnisfähigkeit sensibilisierte. Interessant daran ist, dass sie die Natur aufgrund ihrer eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeiten kaum sieht und ich sie ihr dennoch näherstehend als mir empfinde. Diese Empfindung bringt die Frage hervor, worauf sich ihre Verbundenheit zur Natur gründet. Diese Verbindung wirkt sich in meinem Erleben insofern aus, dass ich den ganzen Naturzusammenhang, der uns beispielsweise während einer Pause auf einer Bank umgibt, ganz anders wahrnehme, wenn ich mit ihr dort bin. Ähnlich wie bei der Nähe zur eigenen Kindheit scheint sich auch hier eine Art Grenze zu verflüssigen.

Zu dieser Fragestellung gibt es eine meines Erachtens wichtige Aussage Rudolf Steiners, die er in einem Vortrag vom 25. Juni 1924 formuliert, der im Rahmen des Heilpädagogischen Kurses gehalten wurde. Darin bildet er einen Zusammenhang zwischen demjenigen, was der Mensch innerhalb seines Erdenlebens an der Welt erlebt und der Bedeutung dieser Erlebnisschicht für seine nachtodliche Existenz. Die genaue Aussage an dieser Stelle lautet: „Außenwelt im Erdenleben ist geistige Innenwelt im außerirdischen Leben“.[2] Diesem Zitat geht voran, dass die Bedeutsamkeit des Welterlebens sich dem gewöhnlichen Bewusstsein des Menschen weitgehend entzieht, obgleich es für sein Unterbewusstsein von großer Bedeutung ist. Im Erdenleben erlebt sich der Mensch zentral in sich selbst und bildet auf dieser Grundlage unterbewusst ein Welterleben aus, welches nachtodlich seine geistige Innenwelt bildet.

Könnte es sein, dass sie die Schwelle bereits so weit überschritten hat, dass sich ihr Selbsterleben mehr aus der Umgebung heraus ergibt, mit der sie verbunden ist als aus ihrem gewöhnlichen Bewusstsein, welches im dargestellten Sinne zunehmend spürbar verblasst? Das würde jedoch bedeuten, dass ihr Ich sich verstärkt von seinem Zentrum zur Peripherie verlagert. Dieses periphere Ich erlebt die Natur dann nicht nur als Abbild oder als sein Gegenüber, wie es im gewöhnlichen (zentralen) Bewusstsein der Fall ist, sondern schließt in seiner Empfindung die formschaffende Kraft der Natur selbst mit ein. Damit ist die Natur selbst ein Teil von ihr. Durch unsere Beziehung kann sich so die Natur für mein Erleben öffnen, was sich in Form von Stimmungswirkungen zeigt, die ich sonst von nirgendwo anders kenne. In gewisser Hinsicht erlebe ich diese mit ihr zusammenhängende Stimmungswirkung mehr zu ihr gehörig als das, wie sie mir in ihrer physischen Form erscheint. Außerdem erlebe ich sie als die Kraft, die durch unsere Begegnung als Entwicklungskraft in mir wirkt. Auch da ist ihre wesentlich „von außen“ kommende Wirkung spürbar. Auf der anderen Seite kann vor dem Hintergrund dieser Ausführungen auch meine Begriffs- und Empfindungsentwicklung an ihr als eine in ihr wirksame Kraft gelten. In diesem Sinne hat sich mit der Zeit eine Beziehung zwischen uns entwickelt, deren wesentliche Aspekte einer Wirklichkeitsschicht angehören, die nicht an irdischen Gegebenheiten orientiert oder daran gebunden ist. Durch diese Eigenständigkeit der Empfindungsschicht, welche uns verbindet, könnte davon ausgegangen werden, dass sich die Beziehung über ihre physische Existenz hinaus weiterentwickeln wird.

[1] Rudolf Steiner: Vortrag vom 10. Oktober 1918, in: Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie. GA 73.

 

[2] Rudolf Steiner: Vortrag vom 25. Juni 1924, in: Heilpädagogischer Kurs. GA 317.

Charline Fleischhauer ist Studentin an der Alanus-Hochschule. Ihr Beitrag wurde für das Praxisprojekt Philosophie verfasst.