26. Februar 2024

Essay – Luft in Erde und Menschen-Leib.


Eine vergleichende Anatomie zum elementaren Verständnis der Seele

Lea Krontal

Einführung

Die Kogi, ein indigenes Volk aus dem Norden Kolumbiens, sprechen von Landschaften und ihrem Territorium, der Sierra Nevada de Santa Marta immer als Organismus, als Zusammenhang von verschiedenen Orten und Elementen in der Landschaft, die durch ihre elementaren Eigenschaften ganz bestimmte Funktionen in diesem Gesamtgefüge erfüllen. Um die Zusammenhänge im Territorium zu beschreiben, vergleichen es die Kogi mit dem menschlichen Körper und seinen verschiedenen Organen. Die hohen Berggipfel etwa sind für sie der Kopf des Landschaftsorganismus und Sitz des Geistes. Die Flüsse sind seine Venen und Adern, Täler und Quellen haben oft mit dem weiblichen Schoßraum und der Fruchtbarkeit zu tun. Für das westlich naturwissenschaftlich geprägte Verständnis von Landschaften und Ökosystemen mag diese indigene Ansicht zunächst fremd wirken, oder als anthropomorphisierende Verklärung der Natur. Kann sich aber, wenn wir diese Metapher von der Ähnlichkeit zwischen Land und Menschenleib ernst nehmen, vielleicht ein tieferes, qualitatives Verständnis von ökologischen Zusammenhängen erschließen, die weder sicht- noch messbar sind und damit eine ganz andere Möglichkeit, uns als Menschen in Bezug zum Landschaftsraum zu setzen, der zugleich ja auch Lebensraum ist?

In der Anthroposophie gibt es ähnliche, doch andere Ansätze zum organismischen Verständnis von Landschaft. Im vorliegenden Essay möchte ich daran anlehnend untersuchen, welche Rolle das Element Luft in der menschlichen Leibesorganisation und im irdischen Leib eines Landschaftskörpers einnimmt, und erörtern, welche Zusammenhänge sich dadurch zwischen Menschen und Landschaftsraum ergeben.

Die Luft in der menschlichen Leibesorganisation

In der Anthroposophischen Menschenkunde wird die menschliche Leibesorganisation als Zusammenspiel verschiedener grobstofflicher und feinstofflicher „Leiber“ verstanden. Es gibt hierbei verschiedene Einteilungen, wobei die Dreigliederung des Menschen eine der zentralsten ist. Diese soll im Folgenden kurz dargestellt werden.
Der menschliche Leib wird verstanden als hervorgehend aus den Polaritäten zwischen Ruhe und Bewegung.[1] In der Entstehung des Leibes „[…] entlässt die schaffende Bewegung die Form und taucht aus dieser als Funktion auf, deren sich das Wesen in seinem Leibe bedienen kann.“[2]  Das Nerven-Sinnes-System, das seine ausgeprägteste Erscheinungsform im menschlichen Schädel hat, der als geschlossene Kugel-Form auf dem menschlichen Körper ruht und im Gehirn die höchste Dichte an Nervenzellen in sich trägt, dominiert dabei das Prinzip der Ruhe und Form.[3]  Es ist leibliche Voraussetzung für das Denken und wird auch als der „obere Mensch“ bezeichnet.
Das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System zeichnet sich durch Bewegung und Regenerationsfähigkeit aus und findet seinen stärksten Ausdruck in den Fortpflanzungsorganen. Es ist damit der Ausdruck der Lebensprozesse im Menschen. Das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System, dem sogenannten „unteren Menschen“ ist die leibliche Voraussetzung für den Willen und zeichnet sich durch das Prinzip der Wärme und Bewegung aus.
Zwischen den beiden Polen von Ruhe und Bewegung, Kälte und Wärme, von Form und Stoff im oberen und unteren Menschen vermittelt fortwährend der „mittlere Mensch“: das rhythmische System von Atmung und Blutkreislauf. Der gesunde Rhythmus ermöglicht ein ausgewogenes Maß zwischen den Polen von Ruhe und Bewegung. Atmung und Rhythmus des Blutkreislaufes sind zugleich leibliche Voraussetzung für das Fühlen, also für alle seelischen Prozesse.[4] „Das ganze Gefühlsleben webt immer hin und her und ist selbst etwas wie ein seelisches Atmen oder Pulsieren. Deshalb braucht das Fühlen etwas, das bis ins Organische hinein die Möglichkeit hat, sich auszudehnen, sich zusammen zu ziehen und sich hin und her zu bewegen.“[5] Der Brustkorb als weder ganz verhärtetes Organ (wie der Schädel), noch gänzlich bewegliches (wie die Gliedmaßen) bildet dabei die körperliche Grundlage zur Vermittlung zwischen Ruhe und Bewegung im Ein- und Ausatmen. „Diese Rhythmen des Pressens und des Loslassens sind das organische, das leibliche Gegenbild dessen, was seelisch sich abspielt, wenn Sie sich freuen oder weinen, wenn Sie lustig sind, oder traurig, angeregt oder depressiv.“[6] Jede kleine Veränderung im menschlichen Empfindungsleben wirkt sich durch minimale Zusammenziehung oder Ausdehnung im Brustkorb auf den Rhythmus von Atmung und Blutkreislauf aus. Dabei bilden Wasser und Luft die elementare Basis für die vermittelnde Rolle des Fühlens zwischen Denken und Wollen. Fühlen ist die Voraussetzung dafür, dass Denken zu einem Willensakt -einer Handlung- wird, und dass wiederum der Wille durch das Selbstgefühl bewusst werden kann.

Auch Wolf Ulrich Klünker beschreibt im Essay-Band „Die Antwort der Seele“ das Verhältnis der Seele zur Luft. Er konstatiert: „Die Seele lebt im Element der Luft.“[7] Es ist also nicht nur das Fühlen, das sich über die Veränderung der Atmung körperlich ausdrückt, sondern das Fühlen in seiner Substanz lebt in der Luft. Seele ist Luft, ist Atmung. Viele alte Kulturen waren sich dieser Verbindung sehr bewusst. Auch in der Etymologie des Wortes „Atem“ findet sich diese Verbindung. Es ist anzunehmen, dass „atmen“ in seinem Wortstamm mit dem altindischen ātmā́ ‘Hauch, Seele, Selbst’ verwandt ist[8]. Bis heute ist auf Sanskrit ‚Atman‘ in der indischen Philosophie die Bezeichnung für die ewige Essenz des Geistes, die Seele.[9]
Nehmen wir die Aussage „die Seele lebt im Element der Luft“ ernst, so hat dies tiefgreifende Konsequenzen. Dem Fühlen wird damit eine Substanzialität zugesprochen, wodurch es eine Leiblichkeit – und damit eine, wenn auch unsichtbare, Räumlichkeit- bekommt. Beginnen wir, das Fühlen der Menschen als Luftleib räumlich, ja gewissermaßen plastisch zu denken; es als eine plastische Tätigkeit, die die Atmung in der Luft vollzieht zu betrachten, so verändert sich auch der Blick auf das, was unter dem Begriff Seele oder Psyche bisher als menschliches „Innen“-Leben bezeichnet wird. Seele als Atmung ist dann weder Innen noch Außen, sie wird der vermittelnde Prozess dazwischen. Das seelische „Atmen“ wird zur Vermittlung zwischen objektiver und subjektiver Realität: ein Prozess der fortwährenden Beziehungs-auslotung, der immer neuen Verbindung und Abgrenzung zwischen Menschen und Welt.

Beginnen wir, das Fühlen nicht mehr als in den Menschen eingeschlossen zu denken, sondern als dieses beziehungshafte Atmen zwischen Innen und Außen, dann bekommt es über seine Plastizität auch eine ganz andere konstitutive Kraft für die Schicht der Welt, die wir zuvor als „Außen“-Welt bezeichneten. Was ich fühle, ist auf einmal nicht mehr egal für die Welt, denn zumindest in der Luft erzeugt es eine Wirklichkeit, die zwar nicht direkt sichtbar ist, als Atmosphäre aber deutlich spürbar werden kann. Ein jeder hat wohl ein Gefühl zur Stimmung eines Raumes, in dem „dicke Luft“ herrscht. Bei angespannter Seelischer Stimmung verdichtet und staut sich vielleicht tatsächlich die Luft zwischen Menschen, während sie bei gelöster Stimmung sich viel freier im Raum bewegen kann. Diese Annahmen gälte es experimentell nachzuprüfen.

Als Luftleib oder Atmungsprozess bekommt die menschliche Empfindung eine subtile Materialität und damit, wie schon angedeutet, auch eine räumliche Dimension. Damit sind die Empfindungen der Menschen immer auch beteiligt an der Gestaltung des Luft-Raumes, in dem sie sich bewegen. Seelische Stimmungen werden konstitutiv für die Atmosphäre, die sich in einem Raum bildet. Wie hängen also die räumliche Dimension der menschlichen Seele und die seelische Dimension des Raumes -z.B. eines Landschaftraumes- zusammen? Ist die menschliche Seele, also das menschliche Empfindungsleben, in seiner Räumlichkeit gar bis in die elementare Schicht des Natur-Raums wirksam und schafft damit „materielle“ Wirklichkeit? Wenn ja, wie ist dieser Prozess zu verstehen?
Die hier aufkommenden Fragen sind weitreichend und können an dieser Stelle entwickelt und skizzenhaft betrachtet, doch nicht umfassend erörtert werden. Sie bieten Anlass zu weiteren Auseinandersetzungen. Ein erster Anhaltspunkt zur Untersuchung der eben aufgezeigten Zusammenhänge könnte die Betrachtung des Wesens der Luft hinsichtlich der Frage sein, welche elementaren Eigenschaften es sind, die sie befähigen, zur Trägerin von Seelenprozessen zu werden. Wie ist das Wesen der Luft und damit auch die elementare Grundlage der Seele zu verstehen?

Luft und Erdatmosphäre

„Luft“ ist das gasförmige Gemisch verschiedenster chemischer Stoffe, das als Atmosphäre den Planeten Erde bis zu einer Höhe von 500km umgibt. Die Erdatmosphäre besteht aus mehreren Schichten mit verschiedenen Dichtestufen und Eigenschaften. Sie ermöglicht ein konstantes Temperaturspektrum auf der Erdoberfläche, das Grundlage für alle Lebensprozess auf dem Planeten ist. Die Lufthülle der Erde vermittelt zwischen den Prozessen auf der Erdoberfläche und den Prozessen im Weltall. Dabei weisen die verschiedenen Schichten der Erdatmosphäre erstaunliche Ähnlichkeiten zu den feineren menschlichen Leibern auf: In der Troposphäre, der erdnächsten Schicht der Atmosphäre (bis ca10 km Höhe) wirkt das Luftförmige in Verbindung mit dem Wasserförmigen in vielerlei rhythmischen Prozessen. Hier findet die Wetterbildung statt. Seine Entsprechung im menschlichen Leib haben diese Vorgänge im gegenseitigen sich Durchdringen von Blut- und Atemzyklus im rhythmischen System.[10]
Es folgen die Stratosphäre, die „Wärmehülle“ der Erde, die verglichen werden kann mit dem stoffwechselbasierten Wärmeleib des Menschen[11]; die Mesosphäre, in der starke Lichtprozesse (die z.B. als Polarlichter sichtbar werden) stattfinden[12], und die mit dem Lichtleib oder der Aura des Menschen verglichen werden könnte; und die Ionosphäre, in der sich die chemische Stofflichkeit der Luft öffnet[13]. Hier werden die Moleküle und Atome ionisiert, verlieren also ein Elektron und bleiben positiv geladen zurück. Dadurch entsteht ein extremes Energiepotenzial. Durch diese „Öffnung“ der sowieso schon extrem verdünnten Materie könnte man davon sprechen, dass die Luft hier in einen anderen Zustand übergeht: Ähnlich wie in einem homöopathischen Mittel, in dem die an die Stelle der stofflichen Wirkung durch die extreme Verdünnung und Potenzierung die geistige Wirkung (also die Wirkung der Information hinter dem Stoff) tritt, könnte man hier von einer Öffnung der Luft ins Geistige sprechen.[14] Ebenso wie im Menschen die atmungsbasierten Seelenprozesse zwischen Leiblichkeit und Geistigkeit vermitteln, könnte man davon sprechen, dass die Luft als Erdatmosphäre zwischen Geistigem und Leiblichen, zwischen Kosmos und Erde vermittelt.

Strömende Luft und die Entstehung von Landschaftsorganismen

Besonders interessant ist die Betrachtung der Luft und ihres Verhaltens in der Troposphäre, der erdnahsten Schicht der Atmosphäre. Durch die Erwärmung an der Erdoberfläche reichert die Luft sich mit verdunstendem Wasser an. Sie nimmt dabei auch die Strömungseigenschaften des Wassers an. Die Bewegungseigenschaften des Wassers tragen im Wesentlichen zur Bildung von Organen bei, die aus der strömenden Flüssigkeit irgendwann als feste Form hervortreten[15]. Diese Eigenschaft zur Zusammenhangs- oder Organbildung hat auch die Luft, durch ihre geringere Dichte strömt die Luft jedoch viel schneller und weiträumiger als das Wasser und wirkt dabei eher auflösend als verdichtend. Im Resultat bringt strömende Luft dabei Klang statt Form hervor[16] (dazu weiter unten mehr).

Wie im Rhythmischen System des Menschen, wo Blutkreislauf und Atmung zusammenwirken und oberen und unteren Menschen verbinden, kommen Luft und Wasser auf der Erde eigentlich nie in ihrer Reinform vor, sondern durchdringen sich zu einem gewissen Anteil immer gegenseitig. Durch ihr gemeinsames Wirken ermöglichen sie die Stoffkreisläufe auf der Erdoberfläche. Erst durch seine Erweiterung in den Himmel hinein wird der Wasserkreislauf der Erde ein wirklicher Kreislauf: Wetter und Klima entstehen. Himmel und Erde kommen in einen Zusammenhang, sodass man auch hier von einer Art Organismus-bildung sprechen kann:

„Überall in der Natur durchdringen sich die Elemente von Luft und Wasser und treiben ein gemeinsames, vielfältiges Spiel. Jedes Flusssystem, jeder See und die Meere bilden organische Ganzheiten mit eigenen Kreisläufen, aber zu jedem von ihnen gehört der mit ihnen verbundene Luftraum dazu. […] Der Luftraum über der Erdenlandschaft ist in seinen Bewegungen nach dieser gestaltet und bildet mit ihr ein Ganzes […]. Es kommt zu Kreisläufen im Luftraum einer Landschaft, welche etwas von deren Leben aussprechen und ganz zu ihr gehören. Diese Auf- und Abstiegsbewegungen der Luft schließen die Erde mit ihren Landschaften zu einem großen Organismus zusammen.“

Wollen wir eine Landschaft beschreiben, so sind wir es gewohnt, dabei vor allem die Merkmale dessen, was wir auf der Erdoberfläche finden zu betrachten. Aber mindestens genauso wesentlich für die Eigenart einer Landschaft ist der dazugehörende und sich fortwährend verändernde Luftraum. Erst durch seine Erweiterung in den Himmel hinein, wenn wir die dazugehörende Atmosphäre mit betrachten und ihm diese seelische Dimension zugestehen, wird ein Landschaftsraum wirklich zu einem organischen Ganzen. Erst die Veränderungen in der Luft machen den Raum wirklich lebendig, denn in der Luft artikuliert sich gewissermaßen die Stimme der Erde in Form der atmosphärischen Stimmung. Der Luftraum einer Landschaft kann in diesem Sinne als ihr Seelenraum verstanden werden. Theodor Schwenk, Begründer der Strömungsforschung beschreibt die Sensibilität der Luft, die Grundlage für die seelischen Vorgänge ist, wie folgt:

„Jede kleinste Erwärmung, jede Abkühlung beantwortet die Luft spontan mit starker Ausdehnung und Zusammenziehung. Solche Ausdehnungen und Zusammenziehungen bedeuten aber in der Luft zugleich stoffliche Verdünnungen und Verdichtungen, womit sie zugleich leichter oder schwerer wird und dadurch in der Atmosphäre auf- oder absteigt. Ein solcher Rhythmus ist wie ein Atem, der die ganze Lufthülle der Erde durchweht. […] Im Atem begegnet sich […] das Wesen der Luft mit dem Wesen des Seelischen, sodass die Luft zum ‚Körper‘ für Seelisches werden kann.“[17]

Auch hier begegnen wir wieder der Verbindung von Luft, Atem und Seele: Luft ist an sich nicht Seele, hat aber qua Konstitution die Fähigkeit, zum Körper für Seelisches zu werden. Wie ist das zu verstehen? Die Luft reagiert in einer Art Atmungsprozess mit der Ausdehnung und Zusammenziehung ihrer Stofflichkeit sensibel auf feinste Temperaturunterschiede und Formimpulse. In diesem Prozess schließen sich die Oberflächen der verschiedenen Luftströme auf und beginnen aneinander vorbeizuströmen[18]. Dadurch entsteht ein subtiles Rauschen, ein Klang. Auch anders herum ist dieser Prozess wirksam – Klang als Schallwelle sorgt für eine Veränderung im Strömungsverhalten der Luft. Durch strömende Bewegungen bringt Klang verschiedene Luftformen hervor; dabei wird Luft zum Klang-Körper für den Ausdruck von innerlicher Bewegtheit, die sich über den Klang artikuliert. Dadurch kann Luft -auch über die Atmung hinaus- als elementare Grundlage des Seelischen verstanden werden:

„[…] jedes Wesen äußert sich seiner Art gemäß, und jeder Klang wird Vermittler seiner innersten Seelenvorgänge. Eine innere Welt ist es, die sich hier auftut, eine Welt von Seelenstimmungen, welche sich im tönenden Luftraum offenbaren. […] Seelenvorgänge spielen sich ab, wenn wir auf die Welt der Töne, des Farbenspiels, ja sogar des Wettergeschehens in der Luft eingehen.“ [19]

Menschenseele, Seelenraum: die Lebendige Wirklichkeit als Beziehungsprozess
Wie wäre eine stumme Landschaft – Natur ohne Vögel, Insekten, oder das Rauschen von Wind? Sie hätte gewiss etwas gespenstisch Leeres an sich, das wohl jedem Menschen unangenehm auffallen würde. Die US-Amerikanische Biologin Rachel Carson veröffentlichte in den 1960er Jahren ein Buch namens „Silent Spring“, in dem sie auf die Auswirkungen des Einsatzes von Pestiziden aufmerksam machte. Sie zeichnet in diesem Buch die Dystopie einer Welt, in der der Frühling stumm bleibt, da es aufgrund des Pestizideinsatzes keine Vögel und Insekten mehr gibt. Der Luftraum ist nicht mehr auf gleiche Weise durchklungen, beseelt. Das Buch wies eindrucksvoll auf die Folgen chemischer Eingriffe in die Umwelt hin und hatte damit in den 60er Jahren großen Einfluss auf den Beginn der Umweltbewegung. War es vielleicht das Bild einer Landschaft ohne „Seele“, das Rachel Carson mit dem Bild der verstummten Luft unausgesprochen malte, was die Menschen derart weckte?  Auf eine bestimmte (vielleicht unbewusste) Art und Weise scheint es für viele Menschen doch ein intuitives Verständnis für die seelische Dimension des Landschaftsraumes zu geben, auch wenn viele bei dem Begriff „Landschaftsseele“ vermutlich verneinend den Kopf schütteln würden. Doch zumindest wirkte die Vorstellung eines stummen Frühlings und einer unbeseelten Luft in den 60er Jahren auf viele Menschen so alarmierend, dass es Anlass für eine politische Bewegung gab.

Der materialistische Reduktionismus, der das menschlichen Empfindungsleben als Produkt von Nervenprozessen und hormonellen Vorgängen deklarierte, rationalisierte auch die seelische Schicht des Raumes fort und reduzierte die landschaftliche Stimmung immer stärker auf deren materielle Konstitution. Gleichwohl kennen, schätzen und suchen viele Menschen das unmittelbare Berührtsein von Wetter- und Stimmungsverhältnissen in der Landschaft.
Könnte man vom Zusammenklang all dieser Phänomene, die sich in einer Landschaft als Stimmung in Witterung, Klang, Farbe und Atmosphäre ausdrücken, als die „Seele“ einer Landschaft sprechen? Als das, was in einer Art Stimmungs- und Empfindungsraum die einzelnen Elemente der Landschaft eigentlich erst als Zusammenhang erlebbar werden lässt? Dieser Zusammenklang einzelner Landschaftselemente braucht das Luftige, um sich artikulieren zu können. In diesem Sinne könnte man vom Luftleib oder Luftraum der Landschaft als ihrem seelischen Körper sprechen, der wiederum erst die einzelnen Raum-Elemente auf der Erdoberfläche so in einen Zusammenhang bringt, dass daraus wirklich ein Landschafts-Organismus wird. Wenn wir die Luft als zur Landschaft gehörig verstehen, dann sind wir als Menschen nicht allein dadurch, dass wir die Landschaft mit unseren Körpern durchschreiten oder in ihr wohnen, ebenfalls Teil dieser Landschaft. Nein, die Beziehung wird viel intimer – denn gewissermaßen atmen wir die Landschaft auch in uns hinein, ebenso wie wir uns selbst in die Landschaft hinausatmen. Und dies sowohl leiblich, als auch seelisch.

Ob eine „Landschaftsseele“ als eine Art immaterielle Wesenheit verstanden werden sollte, die sich in den Landschaftraum hinein artikuliert, oder als ortscharakteristischer Stimmungs-Raum, der aus dem Zusammenspiel aller Landschaftselemente emergiert aber in diesem Sinne kein Eigenleben hat, bleibt an dieser Stelle fraglich. Die Annahme einer „Landschaftseele“ im Sinne einer Wesenheit würde bedeuten, dass man ihr eine gewisse objektive, immaterielle Realität zugestehen würde. Hier stellt sich jedoch die Schwierigkeit, dass diese feinstoffliche Landschaftsseele nichts an-sich erkenn- oder beschreibbares, ist, sondern immer auch von der Person abhängt, die sie betrachtet. Sicher hat sie objektiv nachweisbare Aspekte, wie Luftdruck, Luftfeuchtigkeit etc. Aber die qualitative Empfindung, die sie zum lebendigen Ausdruck einer Stimmung macht, ist zunächst immer die Landschaft wie sie sich an-mich richtet, wie sie mir entgegenkommt, weil ich auf bestimmte Art und Weise für sie sensibel bin. Natürlich gibt es auch in diesem Fall deutliche Übereinstimmungen in der Wahrnehmung verschiedener Menschen, aber die „Wahrheit“ ist immer als eine intersubjektive Annäherung und nicht absolut objektiv gesetzt zu verstehen. In diesem Sinne entsteht die Landschaftsseele zunächst als individuelles räumlich-seelisches Zusammenhangserleben, das sich im Kontakt mit dem Erleben anderer Menschen bestätigen oder erweitern kann. Die seelische Dimension des Raumes wird damit zu  einem Beziehungsprozess, einem Raum-Zeit-Zusammenhang.

Zum Schluss

Hier wird wieder die Eigenschaft der Seele als das Element des Zwischenraums deutlich. Dieses Zwischen zu denken, das weder-noch, sondern sowohl-als-auch ist, verlangt dem auf klar trennbare Kategorien trainierten Verstand eine gewisse Lockerung ab. Bei Durchlüftung der dualistischen Kategorien Mensch-Natur, Innen-Außen, Subjekt-Objekt, öffnet sich ein Zwischenraum, in den hinein sich das Lebendige artikulieren kann, in dem eine beziehungshafte, lebendige und beseelte Wirklichkeit entsteht. Es zeigt sich: menschliche Seele ist weder ganz Innen, während Landschaft nicht allein Außen ist. Seele ist Atmung, ist Zwischenraum. Menschen und Erde stehen dadurch in einem existenziellen Beziehungsgeschehen. Was von der Landschaft, also von kollektiv-räumlichen Zusammenhängen spielt sich „in“ mir, in meinem Erleben ab und hat damit auch mit mir zu tun? Wie prägen meine Empfindungsprozesse die elementare Wirklichkeit des Raumes, in dem ich mich befinde? Wie wirke ich Kraft meiner „Innerlichkeit“ auf die lebendigen, feinstofflichen Schichten der Räume ein, in denen ich mich bewege, die zwar nicht sichtbar, doch spürbar sind?

Über das Element der Luft und die ebene dargelegten Zusammenhänge zwischen Menschenseele und Seelenraum einer Landschaft wird vielleicht auch die Analogie, die die indigenen Kogi zwischen Landschaft und Menschenkörper ziehen, zugänglicher. Welche Perspektiven zu einem ganzheitlicheren Verständnis ökologischer Zusammenhänge ließen sich aus einer wirklich ernsthaft angegangenen Erforschung der Zusammenhänge zwischen menschlichem Organismus und Erdenorganismus bilden? Es scheint, als forderten die ökologischen Fragen der Gegenwart nicht allein technische Lösungen, sondern vor allem die ehrliche selbst-Betrachtung der Menschen, damit sich ein Innenraum öffnen kann, aus dem heraus anders mit der „Umwelt“ in Beziehung gegangen werden kann. Vielleicht kann dieses Essay in diesem Prozess ein kleiner Beitrag sein.

Literatur

Monografien

Walther Bühler: Der Leib als Instrument der Seele: in Gesundheit und Krankheit. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1987

Der Beitrag der Geisteswissenschaft zur Erweiterung der Heilkunst. Ein anthroposophisch-medizinisches Jahrbuch, Hybernia-Verlag Stuttgart, 1951, S.12

Klünker, Wolf- Ulrich (2007): Die Antwort der Seele. Psychologie an den Grenzen der Ich-Erfahrung, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart

Knauer, Helmut (1971): Erdenwelt Sternenwirken. Beiträge zur Erkenntnis des Erdorganismus und der Planetenwelt, Mellinger Verlag, Stuttgart

Schwenk, Theodor (2003): Das sensible Chaos, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart

Internetquellen:

Beitrag zur Etymologie des Wortes „Atmen“ im Digitalen Wörterbuch der deutsche Sprache:
›atmen‹ in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen | DWDS (Stand 25.1.2024)

Beitrag zu „Atman“ bei Wikipedia: Atman – Wikipedia (Stand 25.1.2024)

[1] Vgl. Der Beitrag der Geisteswissenschaft zur Erweiterung der Heilkunst, S.12

[2] Schwenk, S.125

[3] Vgl. Ebd.

[4] Vgl. Bühler, S.15

[5] Bühler, S. 16f

[6] Bühler, S.16

[7] Klünker,  S.13

[8] ›atmen‹ in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen | DWDS

[9] Atman – Wikipedia

[10] Vgl. Knauer S.79

[11] Vgl. ebd. S.77

[12] Vgl. ebd. S.79

[13] Vgl. ebd. S.79

[14] Vgl. ebd. S.77

[15] Vgl. Schwenk, S.24

[16] Vgl. ebd. S. 102

[17] Schwenk, S.122f

[18] Vgl. ebd. S.118

[19] Vgl. ebd. S.123