Entwicklung des Fühlens
Ein Text von Olivia Kaas, Studentin an der Alanus Hochschule, entstanden im Zusammenhang mit den Seminaren „Die Empfindung des Schicksals. Biografie als Gefühlsbildung“ (Frühjahr 2023), „Psychologie und Psychotherapie“ (Frühjahr 2024) und „Zentrales und peripheres Ich – Lebens- und Forschungsperspektiven“ (Frühjahr 2024) von Wolf-Ulrich Klünker und Ramona Rehn.
Entwicklung des Fühlens
Der Widerspruch kann als eine Grenze im Fühlen erlebt werden. Eine Entwicklung des Fühlens muss dann durch diesen Widerspruch hindurch. In dem Willen für den Durchgang und einer Berührung mit dem Denken könnten im eigenen Fühlen und den Beziehungen eine Freiheit und Entwicklungsfähigkeit entstehen, in welchen das Fühlen gewissermaßen für das Erkennen qualifiziert wäre. Im Annehmen der Widersprüche liegt dabei eine Vertiefung der Wirklichkeit und Ernsthaftigkeit und Konsequenz gegenüber dem eigenen auch schmerzhaften Erleben, ohne sich wiederum nur an diesem auszurichten. Die irdische Lebensrealität wäre hierin ernsthaft angenommen und nicht in dem Versuch des Aufbaus einer heilen und sicheren Gefühlswelt entkräftet und überwunden.
Der Widerspruch im Gefühl kann die Gleichzeitigkeit von Angst oder Entfremdung und Liebe bedeuten. Das Erleben des eigenen Verhältnisses zur Welt könnte im selben Moment von Haltlosigkeit und Gehalten-sein bestimmt werden. Durch den Widerspruch hindurchzugehen müsste bedeuten, die Spannung zwischen den eigenen Gefühlen zu halten und nicht in sich gegenseitig widersprechendem isoliert einzutauchen. Es käme jetzt darauf an, in dem Erleben des einen das andere Erleben mitzunehmen und darin vielleicht den Widerspruch zu erleben. Ebenda könnten sich womöglich auch zentrales und peripheres Ich berühren. Das heißt; ein Ich-Erleben in Abgrenzung zum Außen und eines, in dem das Ich gerade im „Anderen“, im „Außen“ erlebt wird.
In dem Halten der Spannung wird ein Zusammenhang gebildet, in dem das punktuelle Erleben über seine Punktualität hinaus Bedeutung erfährt und ihm entsprechend ernst genommen werden kann. Es gewinnt gewissermaßen Zeit und kann sich entwickeln. In einer solchen Zusammenhangsbildung berühren sich Fühlen und Denken. Das Denken müsste sich dafür für das Fühlen sensibilisieren, das wiederum nicht mehr im subjektiven Gefühlsraum isoliert bliebe. Es könnte jetzt eine Form des Bewusstseins erreichen, in welcher eine Qualifizierung für die Erkenntnis möglich wird.
Über den Willen, den Widerspruch zu empfinden und zu halten, fließt in das Fühlen und in das Zwischenmenschliche eine intentionale Richtungsgabe. Entsprechend wachsen Verantwortlichkeit für das eigene Fühlen und Entwicklungsfähigkeit im Fühlen. Für das Zwischenmenschliche hieße das, dass ein Interesse für den Anderen ebenfalls mehr und mehr aus dem eigenen Willen leben würde und nicht unmittelbar mit Sympathie und Antipathie verbunden bliebe. Es könnte eine wirkliche Möglichkeit der Bedingungslosigkeit und zwischenmenschlichen Ernsthaftigkeit entstehen.
Im eigenen Fühlen kann erlebt werden, dass es sich von der Vergangenheit löst und in einer Eigenbewegung individualisiert. Auch kann eine Integration in einen individuellen Bedeutungszusammenhang empfunden und das eigene Gefühl in einem größeren Entwicklungszusammenhang innerhalb der Biografie gesehen werden.
Wenn die punktuellen, sich abwechselnden Gefühle nicht mehr ausschlaggebend sind, stellt sich die Frage, welche Gefühle jetzt aus einer individuellen Gefühlsbildung hervorgehen. Welche können von hier an tragen?
(Olivia Kaas)