„Der Mensch als Tier – Der Mensch als Engel – Der Mensch als Mensch“
Unter diesem Titel hat vom 31.05.-02.06.24 ein Seminar an der Alanus Hochschule stattgefunden, welches von Wolf-Ulrich Klünker und Ramona Rehn gehalten wurde.
Darin wird der Mensch in der Spannung zwischen Engel und Tier betrachtet. Geht der Bezug des Menschen zum Engel verloren, nähert er sich in seinem Selbstverständnis und -erleben immer mehr dem Tier an. Diese Bewegung ist heute bereits sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft zu bemerken.
Das Seminar stellt die Frage nach der Entwicklung eines zeitgemäßen Begriff des Engels, durch den sich der Mensch individuell entwickeln und dadurch Freiheit realisieren kann.
Der folgende Text ist ein frei gestaltetes Protokoll von Charline Fleischhauer, die als Studentin daran teilgenommen hat.
In einem Videoausschnitt eines Interviews von Joseph Beuys aus den 80er Jahren spricht er über die Größe des Menschen und seine Eingebundenheit in den Weltenzusammenhang. Die wichtigste Aufgabe der Kunst sei die Zusammenhangsbildung zwischen dem Menschen und seinem viel größeren Wesen. Dieses Selbstverständnis des Menschen, sich als ein großes, gleichsam göttliches Wesen zu begreifen, sei im Zeitalter des Materialismus verloren gegangen. Beuys selbst stellt einen umfassenden Lebenszusammenhang dar, in dem die Engel einem geistigen Prinzip über dem Menschen angehören und die Tiere einem Prinzip unter ihm, welches er um Pflanzen, Minerale und die geografische Fläche, auf der er sich bewegt, verlängert. Dies alles erklärt Beuys als von Anfang an dem Menschen zugehörig, woraus sich für ihn eine Dialogfähigkeit des Menschen mit all diesen Reichen und Prinzipien ergibt. So könne der Mensch mit Wesen in Kontakt treten, die höher sind als sein kurzfristiger, rein intellektueller Verstand.
Interessanterweise zählt er das eigene Ich dazu, was voraussetzt, dass er das Ich nicht mit dem Menschen gleichsetzt, sondern es in gewisser Hinsicht über ihn verortet. Das hätte zur Folge, dass die Herausbildung der eigenen Individualität nicht vorausgesetzt ist, sondern nur dann erfolgt, wenn es dem Menschen gelingt, mit seinem Ich in Kontakt zu kommen. Darüber hinaus ist es Beuys zufolge auch möglich, mit Engeln und Erzengeln zu sprechen, wodurch sich ein Bild des Menschen formt, welches bis zum Gottesbegriff hin groß ist.
Als Ergebnis der menschlichen Entwicklung führt er die Individualisierung an, die es heute jedem Menschen ermöglicht, aus eigener Kraft die Wirklichkeit hervorzubringen, die früher nur durch spirituelle Inspirationsquellen zu erreichen war. Der Mensch sei erst dann wieder wirklich Mensch, wenn sein Wesen und die Menschheit so groß gedacht werden, dass alle Tiere, Pflanzen, die Erde, Planeten und der Kosmos durch ihn entwickelt werden und somit zu ihm gehören.
An diesen von Beuys geschilderten Zusammenhang könnte sich die Frage anschließen, wie sich Kriterien bestimmen und aufbauen ließen, die dazu führen, den Menschen größer zu denken. Individuell betrachtet hängt meine Entwicklungsfähigkeit davon ab, inwieweit es mir gelingt, ein Bewusstseinsfeld für meine Gefühle auszubilden. Denn Gefühle wirken immer als Kraft und somit entweder positiv oder negativ. Wird mein Bewusstseinsfeld nicht durch ein willens- und empfindungsgetragenes Denken von mir individualisiert und sensibilisiert, so können die in mir aufkommenden Gefühle nicht von mir erfasst werden. Die Kraft des Gefühls wirkt trotzdem; dann jedoch unbewusst und somit in negativer Weise. Aus dieser Perspektive lässt sich die Frage stellen, ob es Kraftwirkungen gibt, die nur deshalb problematisch sind, weil sie erst in ihren Ergebnissen bemerkt werden und nicht vorher in ihrer geistigen Wirklichkeit.
Die Wahrnehmungen, die der Mensch im und durch den Kontakt zum Engel ausbilden kann, haben etwas damit zutun, dass sie etwas aus dem machen, was (noch) nicht da ist. Dieser Satz weist meines Erachtens in eine Richtung, in der letztlich das Motiv des Seminars und die Verbindung zur Engelexistenz selbst zu suchen wäre. Denn dieser macht nur durch eigene Zusammenhangsbildung und den dadurch möglich werdenden Mitvollzug im eigenen Erleben Sinn. Ich muss zunächst verstehen wollen, was er besagt, was nur durch einen selbst gebildeten Verständniszusammenhang möglich ist. Dieser schließt nichts definitorisch ab, sondern eröffnet Perspektiven, durch welche sich mein Verständnis immer weiter vertiefen kann.
Bezogen auf die eigene Bewusstseinsfähigkeit in Verbindung zur Engelexistenz bedeutet das, dass ich zunächst Begriffe brauche, die mich auf diesem Gebiet sensibilisieren, woraus sich erst allmählich eine Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit herausbilden kann. Die Engelexistenz ist also nur dann für mich zugänglich, wenn ich aus freier Imagination eine Empfindung ausbilde, an der der Engel partizipieren kann. Ich muss also zunächst selbst die Wirklichkeitsdimension hervorbringen, in der der Engel wirksam ist, um ihn erkennen zu können.
Im Seminar machen wir eine Bildbetrachtung, bei der ich selbst die Erfahrung machen kann, dass darin eine Wirklichkeitsschicht liegt, die von meinem Erleben abhängt. Obwohl ich das Bild bereits vorher schon gesehen habe, erlebe ich es in der Situation und vor dem Hintergrund des Seminarinhalts vollkommen neu.
Was mir in dem Moment besonders auffällt, ist der Blick des engelhaften Wesens, der sich mit meinem trifft. In seinem Gesicht erlebe ich etwas kindliches, das einen gespannten, suchenden, fast ängstlichen Eindruck auf mich macht. Ich frage mich, wie er sich fühlt und beginne innerlich seine tastende Geste nachzuahmen. Dabei entsteht in mir das Erleben, dass er seine Umgebung nicht nur abtastet, sondern sie im selben Moment ebenfalls mit hervorbringt. Im gesamten Geschehen ist eine ungeheure Kraft und Bewegung erlebbar, die eine Stimmung erzeugt, die sowohl etwas freudig-Lichtvolles als auch etwas bedrohlich-Finsteres hat.
Durch die vielen eckigen Felder erscheint das Bild zunächst flächig. Mit der sich entwickelnden Empfindung für die Bewegung und für den Innen- und Umraum des Engels entsteht zunehmend der Eindruck, als sei das Bild nur aus der sich bildenden Dreidimensionalität zu begreifen. Diese kann nur im Erlebnisraum des Betrachters entstehen, gehört jedoch vollkommen zum Bild mit dazu.
Ramona Rehn, die Künstlerin, die das Bild gemalt hat, hat mir eine Kopie gegeben, die es mir ermöglicht hat, mich weiter mit dem Bild zu beschäftigen. In der darauffolgenden Zeit wächst in mir ein Mitgefühl für den Engel heran, in dem ich ihn als zunehmend einsam erlebe. Ich versuche, mir meiner Wirksamkeit im Bild, die aus meinem Interesse für die Situation des Engels hervorgeht, bewusst zu werden, weil ich zunehmend den Eindruck habe, als hänge diese stark mit der Realität zusammen, in der sich der Engel befindet. Mein Blick ist dabei von schräg unten auf das Bild gerichtet, als sich eine Gestalt im unteren rechten Bildrand formt, die mit ausgebreiteten Armen eine liebevolle haltende Geste Richtung Engel macht. Die dunklen Flächen bilden dabei den Oberkörper und die darüberliegende rote den Kopf der Gestalt. In meinem Erleben bin ich es in diesem Moment selbst, die in dem Geschehen sichtbar wird. Auch wenn die Identifikation mit der neu erstandenden Gestalt nach einiger Zeit verblasst, bildet sich ein Erlebniszusammenhang, der die Entwicklung des Engels von der Einsamkeitserfahrung hin zur entstandenen Beziehungssituation begreift.
Rückblickend wirkt es fast so, als drücke sich in dem kindlichen Gesicht des Engels die Sehnsucht nach Entwicklung durch den ihn betrachtenden Menschen aus. Die menschliche Existenz zeichnet sich durch das Bewusstsein aus, welches er von seiner eigenen Biografie hat. Dieses Bewusstsein ist eine Wirkung des Denkens, welches sich beim Menschen im Gegensatz zum Engel frei ausbilden konnte. Diese Freiheit im Denken ist beim Engel aufgrund der Identität von Bewusstsein und Sein nicht gegeben. Beim Menschen entsteht durch die Trennung von Bewusstsein und Sein ein Ich-Bewusstsein, welches weder das Tier noch der Engel hat. Das Interesse des Engels am Menschen könnte darin liegen, an seinem Ich-Gefühl zu partizipieren.
Erlebt der Mensch die Sehnsucht des Engels im Bild mit, so kann der Engel ins menschliche Gefühlsleben hineinkommen, wodurch sich im selben Vorgang der Mensch in die wirklichkeitsschaffende Engelssphäre hineinentwickeln kann. So kann in dem Bild eine Realität erlebt werden, die die gegenseitige Entwicklung von Engel und Mensch erkennbar werden lassen und zugleich hervorbringen kann.
In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Aspekt des Seminars interessant, in dem zwei verschiedene Erkenntnisarten des Engels beschrieben werden – die morgendliche und abendliche Erkenntnis. Diese gehen auf Augustinus zurück und wurden von Thomas von Aquin später erneut aufgegriffen. Die morgendliche Erkenntnis erkennt dasjenige, was als unsichtbares Prinzip in den Dingen vorliegt, wohingegen in der abendlichen Erkenntnis die Einzeldinge selbst wahrgenommen werden. Die Aufgabe des Engels besteht darin, die Übergänge von der Morgen- in die Abendstimmung willentlich zu vollziehen und zu gestalten, ohne dabei vollständig in den Mittag oder in die Nacht zu geraten. Denn im grellen Licht des Mittags ist für ihn keine Erkenntnis möglich, wie auch nicht in der Finsternis der Nacht. Da für den Engel – wie oben bereits erwähnt – eine Identität von Bewusstsein und Sein besteht, bedeutet eine ausbleibende Erkenntnis der Welt für ihn auch der Verlust der Erkenntnis von sich selbst.
Diese Darstellung der Engelerkenntnis könnte ebenfalls auf das „Engelbild“ bezogen bzw. darin erlebt werden. So als käme im Gesicht des Engels die Gefahr zum Ausdruck, die das Hineingeraten in das reine Licht oder in die Finsternis mit sich bringen würde. Er selbst befindet sich dabei in der Situation, die Übergänge zu gestalten und sich und die Wirklichkeit dabei hervorzubringen.
Zu fragen wäre, ob die gegenseitige Entwicklung von Engel und Mensch an einem Punkt angelangt ist, an dem die Kraft, die die Zusammenhänge herstellt, zunehmend vom Ich ausgehen muss und damit den Engel allmählich ablöst. Damit würde die Morgen- und Abendstimmung für die Dinge und damit für die Wirklichkeit durch den Menschen hergestellt werden. Die Kraft des Ich ist im Gegensatz zum Engel freie Imaginationskraft, wodurch sich die Wirklichkeit durch diesen Schritt aus Freiheit und zur Freiheit hin konstituiert.