11. April 2024

Bericht über das Seminar ‚Der Heilpädagogische Kurs Rudolf Steiners‘


Grundlagen für Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie

Bericht von Sinclair Thiersch über die  Online Seminar-Reihe, Teil1, mit Prof. Dr. Dr. Wolf-Ulrich Klünker, Dipl.Ing. Ramona Rehn und Roland Wiese und Charline Fleischhauer am 02.03.2024, Forschungsstelle für Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie DELOS
Seminar für Waldorfpädagogik Köln

Der Heilpädagogische Kurs (HPK) gliedert sich in zwei Hauptteile: 1.) Kapitel 1-5, frei gehaltene Vorträge über die geisteswissenschaftlichen Grundlagen, in der  Schreinerei, vor einer kleinen Anzahl Interessierter Menschen. 2.) Kapitel 6-12 Fallbesprechungen.

Unser Selbstverständnis im 21 Jahrhundert ist mit der Betrachtung des HPK in den Teilen Grundlagen und Fallbesprechung gefordert! Anthroposophie ist keine Theorie die irgendwie angewendet werden kann, sondern ein Mittel zur Selbstaktivierung. Mit diesem Grundgedanken betrachtet Wolf-Ulrich Klünker den Heilpädagogischen Kurs Rudolf Steiners jetzt im hundertsten Jahr seiner Entstehung. Die Anwendung bedeutet dann die Grundlagen in Kapitel 1-5 als Arbeitsmaterial zur Selbstaktivierung zu nutzen und die Kapitel 6-12 beispielhaft für die aktive Haltung Rudolf Steiners in den Fallbesprechungen zu verstehen.  Die  gegenwärtige Ausgabe des HPK  besteht  aus Nachschriften der Teilnehmer. So stellt sich die Frage wie genau der Text ist. Für die kommende Neuerscheinung des HPK konnten z.B. Stenogramme und  handschriftliche Notizen von Lili Kolisko mit einbezogen werden konnten. (Es wird noch ein Kommentarband erscheinen mit einem Beitrag von Wolf-Ulrich Klünker)

Die Bedeutung der wissenschaftlichen Psychologie, seit über zweitausend Jahren, ist von Aristoteles mit der Schrift über die Seele, mit der Aussage: anima forma corporis, die Seele formt den Leib, begründet worden. So ist im menschlichen individuellen Gesicht der Ausdruck der Seele abgebildet. Das Tier bildet seinen ganzen Körper- und dessen speziellen Fähigkeiten- nach einer seelischen Fähigkeit aus, was dann als Ausdruck seiner seelischen Existenz erscheint.
Heute gilt corporis forma anima, der Leib bildet die Seele.  Unserer Zivilisation im 19ten, 20ten und 21ten Jahrhundert hat die von Aristoteles formulierte Grundlage der Psychologie umgekehrt. So stellt Freud fest, dass Ich ist eine Kompromissbildung des Es und des Über-Ich, daraus folgt, das Bewusstsein entsteht aus dem Körper.  Für Aristoteles hat sich im Zusammenhang von anima forma corporis die Forschungsfrage gestellt, existiert die Seele weiter wenn der Leib stirbt? Hier setzt der HPK ein. Thomas von Aquin stellt fest: Individualität bleibt nachtodlich bestehen. Diese Frage wird auch von seinem Lehrer Albertus Magnus in De unitate Intellectus bearbeitet ( restaurierte Schrift im Stadt-Archiv in Köln). Rudolf Steiner behandelt im HPK die vorgeburtliche Existenz des Menschen mit der Aussage: das Denken bildet den Leib vorgeburtlich. Dadurch entsteht eine extreme Problematik, wir stehen wissenschaftlich im Bann des 20ten Jahrhunderts. Die Psychoanalyse von Freud stellt die Frage nach dem Unbewußten. Im HPK wird die Frage nach Leben und Tod gestellt: „Außenwelt im Erdenleben ist geistige Innenwelt im außerirdischen Leben.“1 Mit diesem Satz überschreitet Steiner die Schwelle zur nachtodlichen Existenz, mein Selbsterleben ist dann davon gebildet was ich zu Lebzeiten um mich herum erlebt habe, z.B.  Natur-Erleben, menschliche Begegnungen etc. Leben und Bewusstsein bedingen sich gegenseitig. Das Leben ist Sein, welches ohne Bewusstsein  seine Existenz verliert. Der Bewusstseins Prozess macht den Lebens Prozess. Es findet eine Art Atmung zwischen peripherem und zentralem Ich statt. Das Unbewusste wird bewusst, damit kann gesagt werden die: Frage nach Leben und Tod ist die Frage des 21 Jahrhunderts.

Im Prolog des Johannes wird festgestellt: Er war das Leben (der Logos) und das Leben war das Licht der Menschen. Das Christliche Prinzip: Leben und Erleben sind eines. Wie kann ich mein Denken so er-kräftigen, dass meine Seele den Leib formt?! Wie komme ich in den Bewusstseins- Prozess, der den Körper erreicht? Im Sinne des HPK: ich bin durch den Leib Teilhaber der Welt. Und die Welt hat Teil an mir, ich bin ein Teil der Welt.

Die Frage stellt sich, inwieweit sind Fitness Studios teil einer epileptischen Kultur? Und bin ich mit  Hip Hop noch im Leib inkarniert? Die Bewegung zwischen Leib und Seele als Atmung zwischen peripher und zentral.

Roland Wiese, Mitarbeit in der Delos Forschungsstelle und Mitbegründer von GESO, Umkreis e.V. und Maßstab Mensch, berichtet nun von dem 23 Jahre alten Rudolf Steiner.

Wien 1884, Rudolf Steiner tritt eine Stelle als Hauslehrer bei der Familie Specht an, deren vier Kinder,  eines mit Behinderung, von ihm unterrichtet werden. Rudolf Steiner ist von den schlummernden Fähigkeiten des Jungen Otto Specht überzeugt.2 Durch die freundschaftliche Verbindung Steiners mit Pauline Specht, der Mutter von Otto, gelingt es eine pränatale Rückwirkung auf die seelische und körperliche Gesundheit von Otto Specht auszuüben. Hier ist die seelische Verfasstheit der Mutter, die im Besonderen mit ihrem Sohn Otto verbunden ist,- und die gleichzeitig an den Forschungsfragen  Steiners mit innerer Anteilnahme und Interesse beteiligt ist, als ein Teil des erfolgreichen Heilungs-Prozess an ihrem Sohn Otto zu verstehen. Bewusstsein und Leben bilden diesen Vorgang, der für Otto Specht dazu geführt hat, für sich selbst den Zusammenhang von Ich und Welt zu bilden und diesen erlebend zu durchdringen. Das Ich erlebt sich als Teil der Welt, die durch Krankheit bedingte Isolation wird in einem Selbstheilungsprozess beendet.

Der von den Eltern erhaltene Model-Leib wird individualisiert und dadurch erneuert. Wenn der geerbte Leib nicht individualisiert wird ergeben sich viele Probleme, da dem Erbkörper der Geist erst durch die Individualisierung hinzugeführt wird. Was als Ich Entwicklung zu verstehen ist, die dann später oft mit einer Ablösung vom Elternhaus verbunden ist.

Rudolf Steiner schildert in seinem Lebensgang, dass er durch das Spielen mit den Kindern der Familie Specht selbst erst zum Spielen in seinem Leben gekommen ist. Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen Spiel und Abstraktion und von Leben und Bewusstsein in diesem Zusammenhang? Das Märchenspiel z.B. verbindet Diesseits mit dem Jenseits und macht eine  moralische Haltung erlebbar die Weisheit und Natur in sich vereinen kann.

Die in frühen Jahren gemachten Erfahrungen sind die Grundlage für Steiners Aussagen im HPK. Otto Specht, der mit einem Wasserkopf geboren wurde, konnte das Abitur machen und hat Medizin studiert und wurde Arzt.

Wie ist nun dies Ergebnis zu erklären? Die  im HPK gemachte Aussage: „Außenwelt im Erdenleben ist geistige Innenwelt im außerirdischen Leben,“ bedeutet, dass das im Leben vollzogene Naturerleben die Grundlagen für den neuen Leib im Vorgeburtlichen ermöglicht und veranlagt, Geschieht kein Erleben im peripheren Ich, so ist eine Folge, dass der neue Leib mangelhaft ausgebildet wird. Dieses Mit-Erleben der Natur muss bewußt geschehen, d. h. durch Wahrnehmen und Denken erfasse ich die Natur, die dann durch mein Fühlen, welches sich zu diesem Vorgang einstellt- in mir neu entsteht! Dieses Entstehen ist in seinen Auswirkungen auf den menschlichen Körper als gesundend zu begreifen. Dieser Vorgang ist durch Rudolf Steiner mit Pauline Specht in der Erziehung von Otto Specht erreicht worden.

Die Arbeit von Charline Fleischhauer, einer Studentin der Alanus Hochschule, beschreibt, wie der Vorgang von Leben und Bewusstsein, eine Frage von Leben und Tod, im 21 Jahrhundert geworden ist.

„Ergibt sich mein Ich-Gefühl heute alleinig aus dem Diesseits, d.h. aus dem, was ich mitbringe und zentral in mir erlebe und es mir nicht gelingt, ein empfindendes Denken an dem auszubilden, was mich umgibt, welches mich über meine eigenen Grenzen hinausführen würde, so erlebe ich mich allein in meiner irdischen Dimension, welche der Vergänglichkeit unterliegt. Bilde ich aus mir selbst heraus keinen zukunftsfähigen Empfindungsraum aus, in dem ich mich im anderen Menschen oder in der Welt selbst erleben kann, befinde ich mich nicht im Leben, sondern in einem Todesprozess. In der Konsequenz findet jedoch nicht nur mein Erleben keinen Bezug zur Außenwelt, sondern auch die Außenwelt keinen Zugang zu jener Ich-getragenen Empfindungs- schicht, auf welche sie heute angewiesen ist, um selbst lebendig sein zu können. Nachtodliche Verhältnisse auf der Erde bedeuten dann nicht nur, dass ich in der Welt lebe, sondern auch, dass diese Welt sich aus dem konstituiert, was ich an ihr erlebe. Erlebe ich sie nur als das, was sie bereits ist, ohne imaginativ, inspirativ und intuitiv über das, was sich mir zeigt, hinauszugehen, erlebe ich sie gar nicht in ihrer Lebendigkeit, sondern ebenfalls im Todesprozess, welcher letztlich aus meiner fehlenden Sensibilität hervorgeht.

Die Frage des 21. Jahrhunderts ist möglicherweise deshalb die Frage nach Leben und Tod, weil heute kein Leben mehr von sich aus vorausgesetzt werden kann und überall dort, wo es dennoch vorausgesetzt wird, Negativkräfte wirken, die formauflösend sind und in der Folge Tod hervorbringen. Diese Todesprozesse sind heute bereits an vielen Stellen erlebbar: am seelischen Zustand vieler Menschen, an der Beschaffenheit der Natur, an zwischenmenschlichen Beziehungen und den sozialen Gefügen, welche daraus hervorgehen. Alles wartet darauf, vom Ich her erschlossen und damit zum Lebensprozess umgewandelt zu werden.

Aufgabe des Menschen wäre heute demnach, vom eigenen Umfeld und vor allem vom anderen Menschen durch eigene Zusammenhangsbildung ein Verständnis auszubilden, aus welchem eine Empfindung hervorgehen kann, die selbst als formschaffende Kraft wirksam werden kann. So kann das Gewordene aus der Kraft der menschlichen Intention in die Wirklichkeitsdimension des Werdenden, sich Entwickelnden und somit ins Leben überführt werden. Aus der Umstülpung der Innen-/Außenverhältnisse ergibt sich eine neue Menschenkunde, in der das Ich kein Gegenüber der Welt ist, sondern ein Teil von ihr.“

 

Sinclair Thiersch

 

1 „Außenwelt im Erdenleben ist geistige Innenwelt im außerirdischen Leben“ Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs. 1.Vortrag S. 21

2 Mein Lebensgang, Rudolf Steiner