27. Juli 2023

Wille und Bewegung


 

Wolf-Ulrich Klünker

Es kann im Abstand von 100 Jahren methodisch hilfreich sein, die Menschenkunde Rudolf Steiners von seinem Spätwerk her zu erschließen. Von hier aus ist eine zweifache Perspektive möglich: gleichsam rückwärts, wie sie im Lebenswerk Rudolf Steiners entstanden ist; und mit Blick nach vorn, welche Gestalt sie heute, im 21. Jahrhundert, zu entwickeln hat. In einer solchen Perspektive soll hier die Eurythmie betrachtet werden. In dem Buch «Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst», das Rudolf Steiner zusammen mit Ita Wegmann verfasst hat und das in seinem Todesjahr 1925 erschienen ist, heißt es in dem Kapitel über die Heileurythmie: «Es ist in der Eurythmie eine bewegte Plastik gegeben, die das Gebiet des Künstlerischen wesentlich erweitert.»[1] Und etwas später heißt es: «Bei der Eurythmie strömt sich der ganze Mensch, nach Körper, Seele und Geist, in Bewegung aus.»[2] Hier wird eine Bewegung von innen nach außen angesprochen: Der ganze Mensch kann sich in der Eurythmie geistig, seelisch und körperlich nach außen artikulieren. Eine anschließende kurze Wendung deutet für die Heileurythmie die umgekehrte Richtung an: «[…] diese Art, durch Bewegung in dem Menschen zu wirken, [geht] auf Körper, Seele und Geist […]».[3] In der Kunsteurythmie spricht sich der innere Mensch in der äußeren Bewegung aus, in der Heileurythmie wirkt die Bewegung mit großer Kraft auf den inneren Menschen.[4]

Aura des Willens

In der Eurythmie erlebt sich der Mensch in seiner Bewegungsintention. Das bedeutet, dass am Anfang der Wille als Intention zur Bewegung steht und dass sich dann in der Bewegung und aus der Bewegung heraus ein Empfinden bildet. In gewisser Hinsicht kann die Eurythmie als eine Bewusstseinsform des Willens in der Empfindung gelten. Und der Zuschauer kann in seiner eigenen Empfindung diesen Willensprozess miterleben. Die Willensexistenz des menschlichen Ich hat Rudolf Steiner als «magisch» bezeichnet. «Unsere Beziehung [zur Welt] ist in Wirklichkeit nicht eine physisch vermittelte, sondern eine magische. Nur dass diese nur räumlich ausgeübt werden kann, rein räumlich begrenzt durch die Grenzen unseres Organismus. Wenn Sie anfangen zu begreifen, dass die Beziehung unserer Ich-Organisation nicht eine physische, sondern eine magische ist, dann haben Sie sehr viel gewonnen.»[5]

Der Begriff «Magie» impliziert, dass das Ich im Willen nicht von der Außenwelt getrennt ist; es existiert nicht innerhalb des Körpers. Das Objekt, nach dem ich greife, bewegt meinen Arm und meine Hand. Der Baum, auf den ich interessiert blicke, ist die Ursache meiner Intention und meiner Augenbewegung. So zeigt sich in jeder Bewegung meine Willensverbindung mit der Welt. Diese Beziehung ist beispielsweise in der Depression gestört; der depressive Mensch erlebt nicht mehr seine Willenseinbindung in die Umgebung. In der eurythmischen Bewegung kann diese Beziehung für die Empfindung bewusst werden.

Was sich dann in der Eurythmie erleben lässt, könnte auch als Zusammenhang von zentralem Ich (Intention) und peripherem Ich (Auslöser der Intention in der Welt) beschrieben werden. Die Beziehung von zentralem und peripheren Ich, die Rudolf Steiner in dieser Weise nicht entwickelt hat, könnte in einer Zeit zunehmender Isolation und Depression zu einem wichtigen Begriff gegenwärtiger Geisteswissenschaft und Psychologie werden. Denn in ihr zeigt sich die existenzielle Beziehungshaftigkeit des Ich. Das Ich steht nicht mehr als rein subjektives Wesen einer nicht ich-haften objektiven Außenwelt gegenüber. Die Beziehung, die zentrales und peripheres Ich verbindet, kann als Kraft des Ich identifiziert werden: als eine Kraft, die zunächst unbewusst wirkt, die aber durch eine Aufmerksamkeit auf Intention und Bewegung, wie sie in der Eurythmie gegeben ist, für die Empfindung bewusst werden kann.

So kann die Eurythmie als Empfindungsbewusstsein des Willens die Willens- kraft in der Bewegung zum Ausdruck bringen. In der Eurythmie verbinden sich Ich und Welt, zentrales und peripheres Ich. Die Bewegung und ihre Gestaltungs- voraussetzungen (in der Gruppe, in Farbe und Form der Kleidung etc.) werden so gleichsam zu einer Darstellungsform der Aura des Willens. In ihr kommt zur Anschauung, was Rudolf Steiner am Ende der sog. Klassenstunden, also ebenfalls in seinem Spätwerk, in die kürzeste Formulierung – «Es ist Ich» – gebracht hat: Die Willens- und Bewegungswirklichkeit des Ich zeigt die Welt im Menschen und den Menschen in der Welt.[6]

Der Wille ist magisch und wirkt magisch in der Bewegung. Was mich interessiert, zieht mich magnetisch an, und in der Bewegung (auch etwa der Augenbewegung) verbinde ich mich damit. Der Wille, der in der Intention zur Bewegung wirkt, konstituiert eine Wirklichkeit, in der Ich und Welt verbunden sind. In der Eurythmie kann dieser wirklichkeitsbildende Prozess, der in der Formel «Es ist Ich» angedeutet wird, zur Anschauung gebracht werden.

 

Aura des Tastsinns

Die Beziehung von zentralem und peripherem Ich weist auf eine zwar individuelle, aber nicht nur subjektive Empfindungsschicht hin. In ihr wird die Magie des Willens und damit meine Verbindung mit der Welt erlebt. In diesem Erleben zeigt sich, was in jeder Tastempfindung wirkt: Indem ich den Gegenstand taste, erlebe ich mich – und zugleich kann ich den Gegenstand als Gegenstand tasten, indem ich mich in diesem Vorgang erlebe. So kann der gesamte Sinnesprozess, der mich mit der Welt verbindet, als ein erweiterter Tastvorgang angesehen werden. Die eurythmische Bewegung verdeutlicht diese Tastbewegung von Welt und Ich.

«Denken Sie sich jetzt einmal, Sie könnten durch irgendeinen kniffligen foto- grafischen Vorgang bewirken, dass, wenn der Mensch geht, vom Menschen nichts fotografiert würde, aber all die Kräfte, die er anwendet, fotografiert würden. Also die Kräfte, die er anwendet, um das Bein zu heben, es wieder aufzustellen, das andere Bein nachzusetzen. Vom Menschen würde also nichts fotografiert als nur die Kräfte. Es würde da zunächst, wenn Sie diese Kräfte sich würden entwickeln sehen, ein Schatten fotografiert und beim Gehen sogar ein ganzes Schattenband […]. Sie leben mit ihrem Ich […] nicht in Muskeln und Fleisch, sondern Sie leben mit ihrem Ich hauptsächlich in diesem Schatten, den Sie da abfotografieren, in den Kräften, durch die ihr Leib seine Bewegungen ausführt.»[7]

Diese Aussage Rudolf Steiners zu einer hypothetischen «Bewegungsfotografie» hat Charline Fleischhauer, der unser großer Dank gilt, aufgefunden, nachdem die im Folgenden abgebildeten Lochkamerafotos entstanden waren. Unsere Eurythmiefotos sind also nicht als «Umsetzung», «Bestätigung» oder «Beleg» dieser Formulierung aufzufassen. In Rudolf Steiners bildhafter Beschreibung ist lediglich ein interessantes Entsprechungsphänomen zu sehen. Der «Schatten» ist nicht sinnlich sichtbar; der Begriff steht metaphorisch für die Existenz des Ich in den Kräften des Willens, der Intention zur Bewegung und in den Elementen der Welt (und eben nicht im eigenen Organismus). Der «Schatten» oder das «Schattenband» charakterisieren die Berührung von zentralem und peripheren Ich an der Grenze von Leibesorganisation und Umgebung.

«So grotesk es Ihnen klingt: Wenn Sie sich setzen, dann drücken Sie Ihren Rücken an die Stuhllehne an; mit ihrem Ich leben Sie in der Kraft, die sich in diesem Zusammendrücken entwickelt. Und wenn Sie stehen, leben Sie in der Kraft, mit der Ihre Füße auf die Erde drücken. Sie leben fortwährend in Kräften. Es ist gar nicht wahr, dass wir in unserem sichtbaren Körper mit unserem Ich leben. Wir leben mit unserem Ich in Kräften.»[8] Der Rücken an der Stuhllehne, die Füße auf der Erde – der heute menschenkundlich zu entwickelnde Begriff des peripheren Ich kann am älteren Verständnis des Tastsinns ansetzen. Aristoteles hat in seinen drei Büchern «Über die Seele» den Tastsinn mehrfach als Ausgangspunkt aller anderen Sinne beschrieben. Indem ich im Tastsinn mich selbst am Gegenstand und den Gegenstand an mir erlebe, kommt hier am deutlichsten zum Ausdruck, was für den gesamten Sinneszusammenhang gilt. Das menschliche Ich konstituiert sich an der Welt, und die Welt ergründet sich in dem erlebenden Ich.

 

Zu den Bildern

Dem beschriebenen Berührungsprozess entspricht die Oszillation von Innen und Außen, die sich im Luftelement durch die Atmung vollzieht. Die Lochkamera arbeitet mit einem Licht-Luft-Prozess ohne optische Linse. Das Bild entsteht gleichsam durch die Verwandlung von äußerem Licht und äußerer Luft in inneres Licht und innere Luft. Die optische Wirkung beruht auf dem Prinzip der camera obscura: ein winziges Loch bildet eine Grenze zwischen innen und außen. Durch die kleine Öffnung entsteht ein Innenraum, in dem sich das Äußere zeigen, zum Bild werden kann.

Wir verwenden analoge Kameras und entsprechendes Filmmaterial (Rollfilm in den Formaten 6 cm x 6 cm, 6 cm x 9 cm und 6 cm x 12 cm). Die Belichtungs- zeiten sind vergleichsweise lang, teilweise arbeiten wir mit Mehrfachbelichtungen. Das farbige Licht der Luft geht über in das chemisch-wässrige Element des Films, vollzieht also eine elementare Verwandlung. Die Intention des Fotografierenden ist auf Grund der spezifischen Bedingungen der Lochkamera-Technik stärker mit dem Bildprozess verbunden als bei «normalen» Fotos. Beispielsweise sind einige der Eurythmie-Aufnahmen nur möglich gewesen, indem die Fotografin sich gemeinsam mit den Eurythmisten in den Bewegungsprozess hineinbegeben hat.

Ramona Rehn hat die Bilder in Zusammenarbeit mit Eurythmisten der Alanus-Hochschule und mit der Gruppe «eventeurythmie» aufgenommen. Eine Serie zu eurythmischen Lauten wurde kürzlich in einer Abschlussarbeit verwendet. Es geht bei allen Aufnahmen nicht darum, irgendetwas zu «veranschaulichen», zu «demonstrieren» oder zu «belegen». Gesucht wird vielmehr ein empfindungswirksamer Ausdruck derjenigen Kraft, die an der hier geschilderten Berührungsgrenze des Ich entsteht.

[1] Rudolf Steiner, Ita Wegmann: Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. (GA 27), Dornach 1991 S. 96. Hervorhebung WUK.

[2] Ebd.

[3] Ebd., S. 97.

[4] Im Text heißt es an dieser Stelle sogar, Heileurythmie wirke« in intensiverer Art in das Innere des kranken Menschen hinein als alle andere Bewegungstherapie».

[5] Rudolf Steiner: Heilpädagogischer Kurs. (GA 317), Dornach 1995, S.46f, Vortrag vom 27.6.1914).

[6] Übrigens hat G. W. F. Hegel beispielsweise in «Phänomenologie des Geistes» ein ganz ähnliches Verhältnis als Entwicklungsziel der Philosophie und des Menschen beschrieben: die Identität der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand und damit die Subjektivierung des Objekts und die Objektivierung des Subjekts.

[7] Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. (GA 293), Dornach1992, S. 181f, Vortrag vom 3.9.1919.

[8] Ebd., S.182.

erschienen in der Vierteljahresschrift ANTHROPOSOPHIE / JOHANNI 2023

 

Ramona Rehn

Alphabet · 2022 // 100 cm x 100 cm Lochkamerafoto
Der Laut als menschliche Plastik (sinnlich-übersinnliche Empfindungsform)
Lichtkraft · 2021 // 50 cm x 100 cm Lochkamerafoto
Bewegungsintention und Bewegungswirkung als Lichtform
Zentrum und Peripherie (Gelb) · 2019 // 100 cm x 70 cm Lochkamerafoto
Bewegung und Auflösung (Substanzform im Raum- und Farberleben)
Bewegung und Raum · 2019 // 100 cm x 70 cm Lochkamerafoto
Zentrum braucht Peripherie («Der Mensch ist Alles»; menschliche Form)
Studio · 2021 // 103 cm x 50 cm · Lochkamerafoto
Bewegung und Konstitution des Raumes (Bewegungsform)