10. April 2023

Mistelform. Sensible Prozesse


Anthroposophische Menschenkunde ermöglicht eine Ich-Perspektive auf Gesundheit und Krankheit, Hygiene und Prophylaxe, Genesung und Therapie. In der Ich-Perspektive verändern sich Anthropologie, Psychologie, Medizin vor allem unter einem Entwicklungsgesichtspunkt, der letztlich auch das Substanzverständnis erreicht. Mensch und Natur, Körper, Seele und Geist erhalten in der Perspektive der Ich-Entwicklung zudem eine kosmologische Dimension. Für ein Verständnis der Mistel ergeben sich beispielsweise Bezüge zu einem älteren, eher mondenhaften Erdzustand, den sie noch in der Gegenwart repräsentiert: mit einem gleichsam «archaischen» Organismus, in dem ätherische und astrale Prozesse weniger differenziert sind. Der von Rudolf Steiner angeregte Blick auf die Mistel vermag solche Entwicklungsdimensionen zu integrieren. Daraus haben sich seit etwa hundert Jahren verschiedene naturkundliche, menschenkundliche, pharmazeutische und therapeutische Ansätze herausgebildet. Allerdings zeigt sich hier, ähnlich wie in anderen Gebieten der Geisteswissenschaft, dass die Verantwortung für bestimmte Einsichten und Wirkungen zwar an entsprechende Darstellungen Rudolf Steiners geknüpft, aber nicht an ihn delegiert werden können. Seine Ausführungen sollten als Anregung zukünftiger Erkenntnis und Wirkungsbedingung, nicht aber als Beleg für bestimmte Einsichten oder Wirkungen verstanden werden. Man könnte in einer solchen Haltung auch eine gewisse Entwicklungsverantwortung für das Werk und die Person Rudolf Steiners erkennen.

Ein neues Verfahren

Unter solchen Voraussetzungen kam es vor über zehn Jahren zu einer Zusammenarbeit der Firma Sonett mit der DELOS-Forschungsstelle für Psychologie. Im Mittelpunkt stand ein menschenkundliches Verständnis der Mistel. Intendiert war eine umfassende Perspektive, die von vornherein mit praktischen Folgen verbunden werden und bis zu Produkten führen sollte. Es ging nicht um bestimmte Intentionen oder Wirkungen, sondern darum, in der angedeuteten Ich-Perspektive die Mistel selbst in angemessener Weise zur Geltung zu bringen. Wirkungen sollten nicht an Aussagen Rudolf Steiners, aber auch nicht an bestimmte Substanzen oder Substanzverbindungen delegiert werden. Handlungsleitend war die Überzeugung, dass der Ich-Prozess selber wirksam wird, nicht erst in der Anwendung, sondern bereits in der menschenkundlichen Gedankenbildung, in dem Blick auf mögliche Verfahren, in der Ideenbildung zur Anwendung. Wirkungen konnten und sollten nicht antizipiert werden, weder therapeutisch noch hygienisch noch in irgendeiner anderen Hinsicht.

In konsequenter individualisierter Ich-Perspektive sollten aus dem gemeinsamen Entwicklungsprozess Produkte hervorgehen, die die Mistel selbst in den Mittelpunkt stellen und ihr zu ihrer eigenen Weiterentwicklung verhelfen. Rudolf Steiner hatte vor 100 Jahren angeregt, in einem technischen Prozess Sommer- und Wintermistel (Blatt und Beere) als Grundlage für ein Krebsheilmittel zusammenzuführen. Dies wird von mehreren Heilmittelherstellern in unterschiedlicher Weise praktiziert und erfolgreich als Krebsheilmittel angeboten. Bei unserem Ansatz gehen wir davon aus, dass diesem Zusammenführungsprozess und der Sensibilisierung von Polaritäten heute eine allgemeinmenschliche Bedeutung zukommt. Die wechselseitige Sensibilisierung sich ergänzender Veranlagungen, die Harmonisierung gegenläufiger Entwicklungen und seelisch-geistige wie leibliche Gleichgewichtsbildung betrifft heute jeden Menschen.

Eine erste Phase der Zusammenarbeit der DELOS-Forschungsstelle mit der Firma Sonett wurde vor einiger Zeit abgeschlossen; die neue Sonett Körperpflegeserie «Mistelform Sensible Prozesse» ist inzwischen im Handel. Die substanzbezogene geisteswissenschaftliche Kooperation war so angelegt, dass Theorie und Praxis, Forschung und Produktion eine Einheit bildeten und sich gegenseitig anregten. Wechselseitige Sensibilisierung und Steigerung waren so im Entwicklungsprozess selbst evident. Die Aussagen Rudolf Steiners zur Mistel und seine entsprechenden entwicklungsgeschichtlichen Hinweise wurden berücksichtigt, ebenso bisherige Ergebnisse und Diskurse zum Mistelverständnis, zur Verarbeitung und Anwendung. Das Grundprinzip der Verbindung von Sommer- und Wintermistel (Blatt und Beere) wird durch ein Verfahren realisiert, das zur Zeit Rudolf Steiners noch nicht bekannt war: durch die Substanzverwirbelung und -dynamisierung im sogenannten Fluidischen Oszillator. Es wurden verschiedene Grundformen des Oszillators entwickelt und in ihren Strömungseigenschaften optimiert.

Über verschiedene Stufen findet eine gegenseitige Sensibilisierung der Winter mit der Sommermistel statt; das Ergebnis ist keine «Mischung» im eigentlichen Wortsinn, sondern eher eine Art Aufschließung und Anverwandlung der beiden Grundsubstanzen in relativ komplizierten Parallelprozessen. Die erforderlichen Verfahren wurden wie die Oszillatoren in Konzeption und technischer Umsetzung eigenständig realisiert. Die zwei aufbereiteten natürlichen Substanzrichtungen Sommer- und Wintermistel verbinden sich zu einer «übernatürlichen» neuen Substanz, die die Natur so nicht hervorbringen könnte. Bei dem nebenstehenden Foto (siehe unten) handelt es sich um eine Veranschaulichung des Oszillationsprozesses. Darauf deutet sich an, wie jeweils ein Hauptstrom von einem Nebenstrom beeinflusst wird. Das Verfahren beruht darauf, dass die beiden Misteltypen Blatt und Beere abwechselnd dem Haupt und dem Nebenstrom ausgesetzt werden.

Grundlagen

Das zweite Foto ( siehe unten) zeigt eine Tafelzeichnung, die in Gesprächen über die menschen- und naturkundlichen Hintergründe des Verfahrens entstanden ist – sie können hier nur kurz skizziert werden. Zu den Grundlagen gehört die Annahme, dass die Mistel und ihre Behandlung geisteswissenschaftliches Entwicklungsdenken bis in den Substanzbereich hinein prototypisch zur Geltung bringen kann. Die Grenze zwischen physischen, ätherischen und astralen Prozessen wird nicht als starr vorausgesetzt. Im Sinne der ursprünglichen aristotelischen Physik wird nicht eine «Objektivität» von materiellen Substanz- oder Naturvorgängen gegen eine «Subjektivität» menschlichen Denkens und Erlebens gestellt. Vielmehr sollen Wahrnehmung, Empfindung und Denken als substanzwirksame Kräfte berücksichtigt werden. Wenn dies gelingt, stehen sich nicht ein wissenschaftliches Bewusstsein und eine bewusstlose Natursubstanz unvermittelt gegenüber. Vielmehr wird das Prinzip anima forma corporis (Seele und Geist als Formkraft im Leib und in der Natur) für den Substanzprozess ernstgenommen. Im Sinne Rudolf Steiners, der die Bedeutung des Herstellungsverfahrens gegenüber der reinen Substanzbildung als Zukunftsperspektive betonte, geht es bei unseren Mistelform-Produkten darum, das Grundprinzip der Sensibilisierung in allen Schritten, sowohl substanziell als auch technisch und menschlich, zu realisieren.

Die räumliche Dimension der Substanz und die zeitliche Dimension von Vorgängen werden nicht einfach als gegeben vorausgesetzt, sondern als beeinflussbar und formbar angesehen. In der älteren Physik, die auch die Wirksamkeit geistiger Kräfte berücksichtigte, wäre davon die Rede gewesen, dass in einer solchen Realitätsbildung Raum und Zeit aus geistiger Kraft heraus gleichsam co-konstituierend unterstützt werden können. Die Zeit wurde als Maß der Bewegung bzw. Entwicklung angesehen, nicht als starre Abfolge von Zeiteinheiten. Der Raum galt als eine Zusammenhangsbildung, die durch das erlebende Bewusstsein vollzogen wird, nicht als feststehende Umgebungsentität; der Raum «enthält» dann nicht die Wirklichkeit, sondern er kann in diesem «Halten» unterstützt werden. Im Sozialen findet sich diese Geste im Zusammenwirken von geistigen Strömungen, wie sie Rudolf Steiner etwa mit den Richtungsbegriffen «platonisch» und «aristotelisch» als zukunftsbedeutend charakterisiert hat. Auch dies verstehen wir in erweitertem Sinn so, dass es darauf ankommt, auf allen Ebenen, im Substanzbereich, technisch und zwischen den beteiligten Menschen die Synergie von Polaritäten, von sich ergänzenden Veranlagungen und Fähigkeiten, bewusst abzubilden.

Uns ist deutlich, dass hier erhebliche geisteswissenschaftliche Forschungsfragen angesprochen sind.

In einer weiteren Phase des Projekts soll untersucht werden, ob die Entwicklungsbesonderheiten, die in geisteswissenschaftlicher Sicht für die Mistel vorliegen (eine gewisse kosmisch-natürliche Retardierung) und ihre Modifikation unter gegenwärtigen Bedingungen sich nicht auch auf andere Substanzprozesse übertragen lassen. Mit anderen Worten, ob das Entwicklungsprinzip, das Rudolf Steiner im Hinblick auf die Mistel angesprochen hat, heute modifiziert auf andere Substanzen bezogen werden kann, sodass die Prinzipien der gegenseitigen Sensibilisierung und der Formwirkung in der Substanzverwandlung vom «Prototyp» der Mistel abgelöst und also erweitert angewendet werden können.

Wolf-Ulrich Klünker, Rondeshagen

Gerhard Heid, Deggenhausen

veröffentlicht in der Vierteljahresschrift ‚Anthroposophie‘  Ostern 2023

ein Video der Firma Sonett zeigt das Produkt und seine Herstellung. (Link führt zu YouTube!)