11. April 2023

Geisteskampf am Seelenkern


eine Rezension von Roland Halfen

Albertus Magnus

De unitate intellectus. Über die Einzigkeit des Intellekts.

Eingeleitet und kommentiert von Henryk Anzulewicz und Wolf-Ulrich Klünker unter Mitarbeit von Philipp A. Anzulewicz.

frommann-holzboog-Verlag, Stuttgart-Bad Cannstatt 2022

238 Seiten, Leinen, 2 Lesebändchen. 84 Euro

 

Was kann es bedeuten, wenn ein im 13. Jahrhundert verfasster Text fast achthundert Jahre später erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht wird? Fünfunddreißig Jahre nach seiner Übersetzung von Thomas von Aquins «De unitate intellectus» ist nun Wolf Ulrich Klünkers Übersetzung eines weiteren Textes zum selben Thema erschienen, diesmal von Thomas’ weitberühmtem Lehrer Albertus Magnus (um 1200–1280). In beiden Texten der hochmittelalterlichen Geistesriesen geht es um die Frage des menschlichen Daseins nach dem Tod, genauer: um die Widerlegung der Ansicht, der menschliche Geist würde nach dem Tod in einer Art Allgeist aufgehen, die damals vor allem von Philosophen arabischer Herkunft vertreten wurde.

Ausgangspunkt dieser Diskussion ist das wirkmächtige, aber zugleich an wichtigen Stellen nur knapp formulierende Werk des Aristoteles «Peri psyches» (lat. «De anima», dt. «Über die Seele»), insbesondere die Passagen, in denen es um den Geist (gr. nous) geht, in denen Aristoteles zwischen dem «schaffenden Geist» (nous poietikos) und dem «erleidenden Geist» (nous pathetikos) unterscheidet. Dabei zeigt sich sogleich die ganze Schwierigkeit von Übersetzungen, denn der Begriff «nous» wurde in lateinischen Texten nicht mit «spiritus» übersetzt, sondern mit dem Terminus «intellectus», der wiederum etwas anderes bedeutet als der heutige Begriff «Intellekt». Und diese Schwierigkeiten halten auch in dieser Übersetzung aus dem Lateinischen an, etwa in der Divergenz zwischen der Übersetzung von «unitate» mit «Einzigkeit» (im Titel des Buchs) oder aber mit «Einheit» (im angehängten Glossar). Dieser Umstand ist freilich kein einfacher Mangel, sondern weist vielmehr auf die Arbeit des Philosophen hin, sein begriffliches Instrumentarium immer wieder neu zu befragen, zu präzisieren und zu kontextualisieren, sodass Ludwig Wittgenstein sogar das gesamte philosophische Tun einmal schlicht als «Klärung der Begriffe» bezeichnet hat.1

Bereits hier wird die ganze Dimension der Aufgabe sichtbar, die die beiden großen Denker zwischen Antike und Neuzeit beschäftigt hat: die anthropologische Verfasstheit des Menschen im Hinblick auf sein Verhältnis zum Geist über den Tod hinaus zu bestimmen, soweit es das transparente und folgerichtige Denken zulässt. Dies bedeutete entbehrungsreiche, aber kulturgeschichtlich existenzielle Arbeit an den Grenzen der menschlichen Denk- und Vorstellungskraft. Dabei ist auffällig, dass Thomas in seinem Werk – trotz philosophischer Argumentation – viel stärker von der Glaubensgewissheit des Fortlebens der individuellen Seele nach dem Tod ausging als Albertus, der bereits zu Beginn seiner Erörterung deutlich macht, dass die Glaubensgewissheiten der christlichen Religion innerhalb seiner Widerlegungen keine argumentative Rolle spielen werden (S. 39, Kommentar S. 200).

Mit welchem denkerischen Aufwand und welcher methodischen Seriosität Albert hier vorgeht, wird bereits im ersten Teil seines Werks deutlich, in dem er 30 Argumente für die zu widerlegende These anführt, und nicht etwa nur solche der namentlich genannten Denker, sondern darüber hinaus weitere, die sich Albertus zufolge dem philosophischen Denken ergeben können, unter ihnen auch solche, die er selbst in den kurzen Kommentaren des ersten Teils als «sehr schwer zu widerlegen» bezeichnet. Da das Werk nicht das erste war, in dem sich Albert mit diesem Thema und den damit verbundenen Problemen beschäftigt hat, kann «De unitate intellectus» als die ausführlichste und zugleich konzentrierteste Abhandlung des «Großen» zu diesem Thema bezeichnet werden.

Die beträchtlichen Schwierigkeiten, die sich der heutigen Lektüre des Textes entgegenstellen, beruhen nun nicht allein darauf, dass es um eine Argumentation geht, die sich nicht durch sinnliche Beobachtung prüfen lässt, sondern darüber hinaus und vor allem auf der heute mangelnden Vertrautheit mit dem begrifflichen Instrumentarium der hochmittelalterlichen Denker und dem Fehlen praktischer Ausbildung in den artes liberales, in diesem Fall in der Dialektik bzw. Logik. So dürfte es selbst Lesern, die sich ernsthaft um sinnlichkeitsfreies Denken bemühen, immer wieder schwer werden, den hier entwickelten Gedanken in die Tiefen ihrer Überzeugungskraft zu folgen. Zudem beruhen manche nur kurz eingeflochtenen Argumente auf ausführlicheren Erörterungen an anderen Stellen seines Werks, auf die Albertus dann nur kurz verweist.

Albertus Magnus’ «De unitate intellectus» ist also alles andere als ein Erbauungsbuch. Es ist härteste, im Grunde (geistes-)kämpferische Arbeit im flüchtigsten Medium des sinnlichkeitsfreien Denkens, das die Hochachtung Rudolf Steiners vor der später nicht wieder erreichten Qualität des scholastischen Denkens in eindringlicher Weise erlebbar machen kann. Wer jedoch die Motivation, die Kraft und nicht zuletzt den langen Atem dafür hat, wird in einem meditativen Umgang mit den hier präsentierten Gedankenfolgen auch heute noch zweifellos geistigen Gewinn aus diesem Text ziehen können. Aber ist das Thema heute überhaupt noch relevant?

An dieser Stelle soll zumindest auf zwei Motive etwas eingegangen werden, die Wolf-Ulrich Klünker in seinem Kommentar zu «De unitate intellectus» erwähnt. Das erste ist das Motiv anima forma corporis (die Seele als Form des Leibes), das zum einen ebenfalls auf Aristoteles’ «Peri psyches» zurückgeht, zum anderen sich bis heute in der theologischen Auffassung vom Wesen des Menschen finden lässt (S. 207). Ein Motiv, das je nach Deutung der drei Termini entweder in spirituelle oder aber in materialistische Richtung führen kann. Ohne weiteres Nachdenken über den Inhalt der Begriffe scheint aus dieser Formulierung die Konsequenz hervorzugehen, dass die Seele dann, wenn der Leib nach dem Tod zerfällt, als dessen Form eben[1]falls zerfallen muss. Diese Deutung ist nicht unbedingt modern-materialistisch, denn sie wurde bereits im 12. Jahrhundert als eine den Glaubensgewissheiten widersprechende und somit häretische Lehrmeinung verurteilt (vgl. S. 200).

Damit scheint das Problem aber nicht gelöst gewesen zu sein, denn im 14. Jahr[1]hundert wurde auf dem Konzil von Vienne (1312) erneut und mit der ganzen Wucht der päpstlichen Gewalt noch einmal gegen alle häretischen Irrtümer betont, dass «die Substanz der vernünftigen oder verstandesbegabten Seele in Wahrheit und durch sich selbst die Form des menschlichen Leibes sei»2. Offenbar scheint zu der Zeit das Verständnis dieser Formulierung weiter abgenommen zu haben, sodass die Kirche mit autoritärem Gestus auf der Beibehaltung insistiert hat – freilich ohne deren Sinn zu klären. Ohne eine plausible Erklärung, wie diese missverständliche Formulierung verstanden werden kann, ist sie der äußerlichen und damit materialistischen Deutung gleichsam schutzlos ausgeliefert. Man kann sogar sagen, die Kirche hat mit dem dogmatisierten Festhalten an einer nicht oder nicht mehr verstandenen Formulierung über das Wesen der menschlichen Seele ihrer neuzeitlich-materialistischen Deutung unbeabsichtigt Vorschub geleistet.

Schon das mittelalterliche Argument gegen die materialistische Auffassung der Formel ist aufschlussreich: Da die Form des Leibes selbst nichts Materielles ist, kann sie auch nicht untergehen oder zerfallen. Doch Aristoteles meinte damit noch etwas anderes, was sich nur verstehen lässt, wenn man den griechischen Terminus psyche nicht auf das im heutigen engeren Sinne Seelische beschränkt, sondern als Entität, die auch die den Leib belebenden Kräfte umfasst. Aristoteles kann deshalb in seiner Gliederung der menschlichen Seele von einer «Ernährungsseele» (psyche phytike) sprechen.3 Auch für Platon ist die «Weltseele» (he psyche tou kosmou) primär die Quelle allen Lebens und aller Bewegung im Weltall.4

Das bedeutet: Ein unumgänglicher Schritt zum Verständnis der aristotelischen Formel besteht darin, dass ein Teil, Glied oder Bereich dessen, was die Griechen psyche nannten, die sinnlich-materielle Seite des Körpers belebt und mit seinen Kräften alles das bewerkstelligt, was mit Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung des Menschen zu tun hat. Dieses «untere» Glied der griechischen psyche ist das den materiellen Körper belebende und durch alle Entwicklungsstufen hindurchformend gestaltende Prinzip. Während aus bewusstseinsgeschichtlicher Perspektive in Griechenland noch keine einschneidende Grenze zwischen Seelischem und Leiblichem besteht, bedeutet der Prozess zunehmender Individuation als Ablösung des Menschen von der Natur, wie er insbesondere in der Neuzeit zu beobachten ist, die fortschreitende Abtrennung des genuin Seelischen von den leibbildenden Kräften. Ein Prozess, der auf der einen Seite die innere Unabhängigkeit des Menschen von den Kräften der Natur ermöglicht, auf der anderen Seite bis hin zu den spezifisch modernen Phänomenen der seelischen Kraftlosigkeit und permanenten seelischen Lähmung (Depression) führen kann.

Damit ist aber noch nicht geklärt, woher denn die Formen kommen, die durch das «untere» Seelenglied der psyche phytike formend den materiellen Körper zum seelentragenden Leib werden lassen und gestaltend durch den Lebenszyklus führen. Diese Formen haben als solche ihren Ursprung und ihre Quelle in der menschlichen Wesenheit, die Aristoteles auch als «Entelechie» (entelecheia) bezeichnet.5 Es ist das menschliche Wesen, das sich in den Formen des Leibes artikuliert, vermittelt durch das Glied der menschlichen Konstitution, das durch seine Kräfte die materielle Seite des menschlichen Wesens zu formen vermag.

Wolf-Ulrich Klünker bezeichnet dieses Bild des Menschen in seinem Kommentar als «vertikal» (S. 208), da es die menschliche Seele nicht als Epiphänomen seiner leiblichen Besonderheiten zeigt, sondern die Gestalt des menschlichen Leibes als ein aus dem Wesen des Menschen hervorgehendes und von diesem geformtes Gebilde. Diese Perspektive würde, wenn man sie denn philosophisch stichhaltig begründen könnte, ein Licht auf die globale, insbesondere menschliche Evolution werfen, bei der bislang stets von äußerlichen Faktoren bei der Herausbildung des menschlichen Nervensystems ausgegangen wird. Die umgekehrte Perspektive würde die evolutive Organbildung auf zugrunde liegende seelisch-geistige Intentionen zurückführen, die aus der menschlichen Wesenheit hervorgehen. Die Intentionen bilden und formen in der Auseinandersetzung mit der gegebenen Umwelt die Organe des Menschen – oder lassen sie verkümmern.

Die andere These Wolf-Ulrich Klünkers – die sich an die genannte anschließen ließe – ist der Hinweis auf die reale Wirkung der intellektuellen Selbstvergewisserung auf die kulturgeschichtliche Entwicklung des Ich-Bewusstseins. Ein allzu grobes Verständnis der These, Alberts philosophische Reflexionen seien ein wesentlicher Faktor für die Herausbildung des neuzeitlichen Ich-Bewusstseins, würde freilich über das Ziel hinausschießen, indem es die lange Entwicklungszeit dieses Wesensglieds ausblendet.

Während in der altägyptischen Kultur der ibisgestaltige «Ach», die «verklärte Seele» als Essenz des menschlichen Wesens erst nach dem Tod erfahrbar war, konnte der ewige und damit gottgleiche Wesenskern des Einzelmenschen als mystisches «Iakchos»-Kind der Persephone in den Nahtoderfahrungen der griechischen Mysterien für einige Auserwählte bereits während des irdischen Lebens bewusst erfahren werden. Aber es brauchte noch einige Zeit, bis in der altnordischen Sprache an der Wende zum 5. nachchristlichen Jahrhundert zum ersten Mal das «Ich» als eigenständiges Satzglied vor dem Eigennamen erschien.6

In der lange anhaltenden Verwendung des Lateinischen für jegliche philosophische Erörterung bis weit in die Neuzeit hinein hat sich diese Bewusstseinsveränderung jedoch nicht entsprechend auffällig niedergeschlagen und wurde so auch nicht zum expliziten Gegenstand philosophischer Selbstvergewisserung. Erst als sich die philosophische Diskussion im 18. Jahrhundert nachhaltig von der lateinischen Sprache zu lösen vermochte, war es möglich, dass die Rede vom «Ich» und die Reflexion über sein Wesen und seine Funktion innerhalb des philosophischen Denkens (bei Kant und Fichte) möglich wurde. Bei Albertus geht es jedoch nicht um eine Reflexion über das Wort oder den Begriff «Ich», sondern um die philosophisch konsistente Begründung der Existenz eines individuellen geistigen Wesenskerns, der den Tod überdauert, kurz: um dessen ewige Substanz. Diese Substanz wird mit der philosophischen Reflexion aber nicht bloß äußerlich behandelt, sondern in eins damit vom Denkenden selbst intentional (weiter-)entwickelt.

Dass die mittelalterliche Scholastik bei der Entfaltung des neuzeitlichen Denkens eine maßgebliche Rolle spielte, hat Rudolf Steiner immer wieder betont. Mit den mittelalterlichen Geistesgrößen Albertus Magnus und Thomas von Aquin hat sie zweifellos ihre prominentesten, vitalsten und wirkmächtigsten Repräsentanten gefunden, deren Einfluss nicht auf den engen Bereich der Theologie beschränkt werden darf, sondern durch solche Übersetzungen erneut präsent wird und damit weiter, gleichsam wieder auferstanden in die Zukunft wirken kann. Diese spirituelle Dimension der geistigen Aneignung des Vergangenen als Vergegenwärtigung, Verwandlung und Verwirklichung durch den aktiven, schöpferischen Geist (nous poietikos) darf in diesem Fall zugleich als herausragendes Beispiel einer meditativen Arbeit an den menschlichen Erkenntnisgrenzen betrachtet werden.

Roland Halfen, Stuttgart

1 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 4. 112.

2 Concilium Oecumenicorum Decreta 336 f, dt. bei J. Leclerc, Vienne, Mainz 1965, S. 211. Vgl. dazu Roland Halfen: Zentrum, Weg, Unendlichkeit. Zur Genese des neuzeitlichen Selbstbewusstseins in der Kunst der Frührenaissance. In: «Jahrbuch für Schöne Wissenschaften» I, Dornach 2002, S. 97ff.

3 Aristoteles: De anima II 4, 415a–415b.

4 Platon: Timaios 34b.

5 Aristoteles: Metaphysik IX, 8

6 Das bislang älteste Zeugnis hierfür ist eine urgermanische Runeninschrift aus Gallehus in Dänemark, in der es heißt: «Ich, Hlevagastiz aus Holt, habe dies [goldene] Horn gemacht.» Siehe dazu ausführlich Franz Borkenau: Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes. Stuttgart 1984, S. 167. – Die im 4. Jahrhundert beim neuplatonischen Philosophen Themistios (317–388) aufscheinende Reflexion über das ego hat demgegenüber keine Fortsetzung gefunden. Vgl. dazu Wolf-Ulrich Klünker: Selbsterkenntnis der Seele. Zur Anthropologie des Thomas von Aquin. Stuttgart 1990, S. 34f.

7 Vgl. dazu Rudolf Steiner: Von Seelenrätseln. » (GA21), Dornach 1983, S. 11ff, Kap. «Anthropologie und Anthroposophie.

erschienen in der Vierteljahresschrift ‚Anthroposophie‘ Ostern 2023