13. Februar 2023

Das Ringen um Unsterblichkeit


Eine Rezension von Steffen Hartmann (erschienen in der Wochenschrift ‚Goetheanum‘ Nr. 6, 10. Februar 2023)

Das Ringen um Unsterblichkeit –

De unitate intellectus von Albertus Magnus 

Albertus Magnus (um 1200 – 1280) ringt in dem nun erstmals auf deutsch zugänglich gemachten Werk Über die Einzigkeit des Intellekts mit der arabischen Aristoteles-Rezeption, die wirkmächtig die Auffassung vertrat, es gäbe nur einen, allen Menschen gemeinsamen Intellekt (Allgeist) und mithin keine Unsterblichkeit des individuellen Menschengeistes. 30 Argumente für diesen Standpunkt, der sich vor allem um die Gestalt des Averroes (Ibn Rushd) zentriert, und 36 Argumente gegen diese Auffassung werden von Albertus ausgeführt. Erst danach, in einem dritten Teil, entwickelt Albertus seine eigene Geist-Erkenntnis, wobei schon im Vorwort klargestellt wird, dass er sich nicht am „christlichen Gesetz“ (der Bibel), sondern einzig an „philosophischen Schlussfolgerungen“ halten wird.

Ein ungemein moderner, ja auf- und anregender Anspruch. Die große Kunst scholastischen Denkens wird hier vorgeführt. „Wir müssen also allein über die Frage eine Untersuchung anstellen, ob das, was von einer Seele bleibt, dasselbe wie jenes ist, was von einer anderen bleibt, und so dasselbe ist, was aus allen Seelen bleibt.“ (S. 39)

Diese Fragestellung ist zutiefst human, betrifft Wesen und Entwicklung aller Menschen, als auch geistesgeschichtlich hoch bedeutsam, seit den Tagen des Plato und Aristoteles wurde um sie gerungen – sowie hoch aktuell, man denke an den Transhumanismus und seine mit Milliarden Geldern geförderte Forschungen, den Menschengeist auf einen Computer „hochzuladen“ und ihn damit technisch „unsterblich“ zu machen, für die Ewigkeit zu konservieren.

Albertus ist einer der großen Menschengeister, der auf diesem umkämpften Feld im 13. Jahrhundert für eine empirisch-denkerische „Spitzenforschung“ (so Wolf-Ulrich Klünker in seinem hervorragenden Kommentar, S. 204) eintrat und damit eine Tür offenhielt für individual-geistige Entwicklungsmöglichkeiten freier, schöpferischer Menschen. Dem Leser wird freilich viel abverlangt; in kleinsten, feinsten Schritten gilt es zu denken und denkend zu begreifen, was als Gang durch 30 pro Allgeist-Argumente und 36 Widerlegungen vorgebracht wird.

Ein Beispiel aus dem Vorwort für das Referieren der arabischen Lehrmeinung: „Und weil diese Leute sagen, ein solcher Intellekt sei in der ganzen Sphäre des Aktiven und Passiven ausgedehnt und er spende in diesen allen die Formen – so sagen sie, dass das Licht dieses Intellekts in den Menschen eintrete, den Intellekt des Menschen hervorbringe; und dieser wird in den intellektiven Formen erlangt, weil die intellektiven Formen in seinem Licht existieren. Und weil dasjenige, das der eine Mensch erlangt, identisch ist mit dem, was ein anderer erlangt, deshalb ist nach Aufhebung dessen, was den einen vom anderen unterscheidet, ein und dasselbe, was von allen bleibt. Sie sagen aber auch, es stehe fest, dass es die Intelligenz oder der Intellekt sei, der die Formen gibt, weil die erste Quelle der Formen der Intellekt sei.“ (S. 45)

Diese wohl begründete Auffassung – die einfach gesagt bedeutet, dass alle Menschen, insofern sie denken, in dieselben universellen Formen (Begriffe) eintauchen und folglich der Denk-Geist für alle Menschen ein und derselbe ist – ist nicht leicht zu widerlegen. Ja selbst in der Philosophie der Freiheit von Rudolf Steiner finden sich Aussagen, um einmal einen Sprung ins philosophische 19. Jahrhundert zu wagen, die, bei oberflächlicher Auffassung, in diesem Sinne als arabische Aristoteles-Rezeption verstanden werden könnten, etwa wenn es heißt: „Indem wir empfinden und fühlen (auch wahrnehmen), sind wir einzelne, indem wir denken, sind wir das all-eine Wesen, das alles durchdringt.“[1]

Was verbürgt nun die individuelle Unsterblichkeit des einzelnen Menschengeistes?

Schauen wir uns exemplarisch die Argumentation des Albertus an. Er stellt fest, „dass allein der Intellekt die Natur des Menschen ist“ und fügt dann an: „Deshalb fasst der Intellekt nicht, dass diese der Anzahl nach eine Natur in vielen Menschen sein soll. … Man kann auch nicht sagen, dass der Intellekt dem Akt nach oder durch Einfließen seines Lichts bewirkt, dass der Mensch in der Natur und in der Substanz ein Mensch ist. Denn es ist nichts dem Tätigsein nach der zweite Akt von irgendjemandem, was nicht dem substanziellen Sein nach sein erster Akt ist. – Diese Begründung ist meiner Einschätzung nach so überzeugend, dass nichts darauf erwidert werden kann.“ (S. 90f.)

Albertus betont das intellektuale (geistige) Ich-Sein des Menschen als Quelle aller Akte. Es wird hier im 13. Jahrhundert denkend erfasst und ausformuliert, was geistesgeschichtlich auch in der Anthroposophie begegnet, zum Beispiel wenn Rudolf Steiner schreibt, dass der Mensch „ein Gedankenwesen“ sei und „dass in geistiger Beziehung jeder Mensch eine Gattung für sich ist.“[2]

Besonders eindrücklich und sprechend ist die 19. Begründung des Albertus für den individuellen unsterblichen Menschengeist, wo er von der Hand als dem „Organ des Intellekts“ spricht: „Was ein eigenes Organ im Körper besitzt, ist mit der Seele verbunden und hat kein von ihr getrenntes Sein. Der Intellekt besitzt aber ein Organ im Körper … die Hand ist das Organ des Intellekts. Deshalb hat der Intellekt kein von der Seele getrenntes Sein. Obgleich nämlich die Hand das Organ des Intellekts und deshalb das Organ der Organe und die Spezies anderer Organe ist, ist der Intellekt dennoch keine organische Kraft, weil er nichts von der Hand aufnimmt, sondern eher die Hand bewegt, indem er ihr die Spezies der Kunst mitteilt, die sie draußen in der Materie hervorbringt. Daraus wird deutlich, dass der Intellekt kein von der Seele getrenntes Sein besitzt; und so folgt wiederum, dass er in der Anzahl der Menschen gezählt wird, und dass er nicht dasselbe Einzige sein kann, was von allen Menschen bleibt.“ (S. 107)

Es ist überraschend: Die meisten heutigen Menschen würden das Gehirn als das Organ des Intellekts bezeichnen, ja annehmen, dass eigentlich das Gehirn denkt … Wir prägen den Geist aber mit unseren Händen der Welt ein, durch Schreiben, Plastizieren, Kochen, Klavierspielen, Gestikulieren und vieles mehr. Die Albertsche Anschauung findet ihre kongeniale Weiterführung bei Hegel in dessen Phänomenologie des Geistes, wo Hegel Albertus im wahrsten Sinne des Wortes die Hand reicht, wenn er schreibt: „Dass aber die Hand das Ansich der Individualität in Ansehung ihres Schicksals darstellen muss, ist leicht daraus zu sehen, dass sie nächst dem Organ der Sprache am meisten es ist, wodurch der Mensch sich zur Erscheinung und Verwirklichung bringt. Sie ist der beseelte Werkmeister seines Glücks; man kann von ihr sagen, sie ist das, was der Mensch tut, denn an ihr als dem tätigen Organe seines sich selbst Vollbringens ist er als Beseelender gegenwärtig, und indem er ursprünglich sein eignes Schicksal ist, wird sie also dies Ansich ausdrücken.“[3]

Thomas von Aquin hat ungefähr zeitgleich wie sein Lehrer Albertus, der zu Recht der Große genannt wird, eine Schrift gleichen Titels vorgelegt: De unitate intellectus contra Averroistas.

Bereits 1987 hat Wolf-Ulrich Klünker dieses Werk übersetzt und kommentiert herausgegeben; 35 Jahre liegen also zwischen den Herausgaben der beiden Schriften, die nun gemeinsam und wechselseitig studiert werden können. Albertus argumentiert stets sehr nüchtern, philosophisch und welthaltig (die Hand als Organ des Geistes beispielsweise); Thomas erscheint dagegen feuriger, er ringt existenziell um Verbindungslinien zwischen Glaube und Wissenschaft, zwischen religiöser Offenbarung und philosophischer Einsicht. Bei Thomas begegnet uns auch ein ausformulierter Ich-Begriff, den dieser im Anschluss an Themistios entwickelt: „Das Ich ist aus Möglichkeit und Wirklichkeit zusammengesetzter Geist.“[4] Dieses Ich ist einzigartig, unverwechselbar und unsterblich.

Und wie eine geistige Fanfare schleudert Thomas von Aquin dem Averroes die Einsicht entgegen: „Denn es ist offenkundig, dass dieser einzelne Mensch denkt.“[5]

Nachbemerkung 

Im 13. Jahrhundert erstreiten Albertus und Thomas die Möglichkeit, mit Aristoteles zu denken und gleichzeitig ein Christ zu sein. Dies geschah in heftiger Auseinandersetzung mit arabischen Gelehrten, die Aristoteles ohne Christus-Bezüge ausdeuteten – dies sei nicht nur konfessionell gemeint, sondern auch im Hinblick auf ein „Ich der Iche“, das das individuelle Ich-Sein entwicklungsgeschichtlich ermöglicht. Im 19. Jahrhundert formulierten die deutschen Idealisten Hegel, aber auch Fichte und Schelling, das menschliche Ich bin Ich weiter aus und begründeten darauf ihre Philosophien. Im beginnenden 20. Jahrhundert knüpfte Rudolf Steiner an diese geistesgeschichtlichen Entwicklungslinien seine Anthroposophie als Geisteswissenschaft an.

Wo stehen wir heute? Ist nicht das menschliche Denken und damit auch die weitere Ich-Entwicklung massiv bedroht! Die digitalen Medien entmündigen zunehmend die Menschen, die Hand wird zu einem bloßen Tipp- und Wisch-Organ, Denken wird degradiert zum Registrieren von Informationen, Begegnung findet in virtuellen Räumen statt.

Albertus Magnus kann als ein großer Kämpfer für die individuelle Geist-Entwicklung, für freies Denken und kreatives Handeln empfunden werden.

Steffen Hartmann

 

 

Albertus Magnus, De unitate intellectus, Über die Einzigkeit des Intellekts, eingeleitet und kommentiert von Henryk Anzulewicz und Wolf-Ulrich Klünker, übersetzt von Wolf-Ulrich Klünker, frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 2022, 237 Seiten, 84 €.

[1]  Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, Dornach 1995, S. 91.

[2]  Rudolf Steiner, Theosophie, Dornach 1994, S. 172 und S. 71.

[3] G. W. F. Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 210.

[4]  Thomas von Aquin, Über die Einheit des Geistes – De unitate intellectus, Stuttgart 1987, S. 54.

[5]  Ebenda, S. 60.