Nachtrag zum Seminar „Der ätherische Mensch“ (2.4.22)
Die Geisteswissenschaft unterscheidet zwischen physischem, ätherischem, astralem und Ich-Organismus. Dieser Anschauung entspricht historisch der Ansatz des Aristoteles, der über 2500 Jahre (bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts) die Psychologie und Anthropologie geprägt hat: „über“ dem physischen Sein findet man die anima vegetativa (ätherische Organisation), die anima sensitiva (astrale Organisation) und die anima intellectiva (Ich-Organisation). Die Ätherorganisation ist lebendig; die Astralorganistion wahrnehmungs-, gefühls- und bewegungsfähig; die Ich-Organisation denkfähig.
Die ätherische bzw. vegetative Wirklichkeit existiert in den Pflanzen als Lebensprozess. Die astrale bzw. sensitive Wirklichkeit existiert im Tier als Lebensprozess. Die Ich- bzw. intellektive Wirklichkeit existiert im Menschen als Lebensprozess. Die Formulierung „als Lebensprozess“ bedeutet, dass z.B. die Existenz des Tieres nicht als Pflanzenleben plus Wahrnehmung, Sensibilität und Bewegung zu verstehen ist; vielmehr bestimmt die Astralorganisation den gesamten Lebensprozess auf der ätherischen Ebene.
Die lebendig-funktionellen Prozesse des Tieres sind ganz anders als die der Pflanze. Genauso ist das (ätherische) Leben der Pflanze nicht die unbelebte physische Materie plus Vegetation (Leben), sondern der ätherische Lebensprozess bestimmt alles Materielle, bringt eine völlig andere Materie hervor. Und der Mensch kann sich nicht als Tierwesen mit Denkfähigkeit begreifen, sondern die Denkfähigkeit bringt eine völlig andere astrale Seelensituation und eine entsprechend andere ätherische Lebensfunktion hervor. Albertus Magnus sagt im 13. Jahrhundert: „Für den Menschen ist (wird) das Denken Leben; für das Tier ist (wird) das Sensible Leben; für die Pflanze ist das Vegetative Leben.“
Dieses Prinzip hieß ANIMA FORMA CORPORIS, die Seele als Formkraft im Leib. Das 20. Jahrhundert hat es umgedreht in das Prinzip CORPUS FORMA ANIMAE: die leibliche Existenz bestimmt die seelische Existenz. Das wird natürlich nicht in dieser Weise explizit formuliert, sondern postuliert und (fast selbstverständlich) vorausgesetzt. Aus beiden Ansätzen ergeben sich sehr unterschiedliche Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis, für das Organismus- und Naturverständnis und z.B. auch für therapeutische Fragen und Entscheidungen.
(Näheres dazu: Wolf-Ulrich Klünker: Wissenschaft des Ich. In: Ders. u.a.: Psychologie des Ich. Anthroposophie – Psychotherapie. 2. Aufl. Stuttgart 2021;
außerdem: W.-U. Klünker: Die Antwort der Seele. Psychologie an den Grenzen der Ich-Erfahrung. Stuttgart 2007)