23. Dezember 2022

Kolloquium zu Entwicklungsperspektiven einer zeitgemäßen Ich-Psychologie


Von David Richardoz ist ein Beitrag zum Kolloquium (21.10.-23.10.2022) in der Vierteljahreschrift ‚Anthroposophie‘ Weihnachten 2022 erschienen. 

Aus dem Bedürfnis nach der Entwicklung eines menschlich-seelischen Mittebereichs, und mit dem Anliegen, verschiedene Menschen, die eine ich-hafte Seelenentwicklung in ihrem Tätigkeitsfeld fördern wollen, fand Ende Oktober ein Forschungskolloquium an der Alanus Hochschule statt, das dankenswerterweise von den Stiftungen Neuguss und Turmalin gefördert worden ist. Die erahnte Notwendigkeit, dass eine solche Ich-Psychologie in ihrer Entstehung und Entwicklung ein Netzwerk forschender Menschen benötigt, bildete den Grundimpuls eines Austauschs mit Wolf-Ulrich Klünker, Ramona Rehn und Roland Wiese von der DELOS Forschungsstelle. Dieser Bericht versucht, einen inhaltlichen Faden des Kolloquiums zu erfassen und seine Weiterentwicklung zu thematisieren.

Die Arbeit einer Forschungsgemeinschaft zur Ich-Psychologie steht von Anfang an vor der Herausforderung, mit der Wirkungsdimension ihrer eigene Begriffe umzugehen. Denn die Denkanstrengung, z.B. an einem Ich-getragenen Seelenbegriff, wirkt sich auf jeden einzelnen aus, sie sensibilisiert und fordert heraus oder bringt an Grenzen, und hinterfragt die eigene Tätigkeit im individuellen Leben, im Beruf oder im Sozialen. Die Folgewirkungen einer Begriffsbildung und des Forschens rufen also danach, verarbeitet und Teil des Lebenszusammenhangs zu werden. Doch welche Räume finden wir, um solche Verarbeitungsprozesse zu realisieren, und um sich darin gegenseitig zu unterstützen?

 

Grenzerfahrungen

Ein wesentliches Motiv seelischer Entwicklung scheint heute darin zu liegen, dass sich das menschliche Seelenleben an zwei Grenzen bewegt, und dass zugleich diese Grenzen mit der Ich-Entwicklung durchlässiger werden. Viele der Fragen aller Anwesenden im Kolloquium bezogen sich eigentlich auf diese Grenzen. An dem Übergang, bei dem das individuelle, bewusste Erleben aufhört, und sich ein schwer zu greifender Lebensbereich befindet, ist eine erste Grenze zu verorten. Dies betrifft z.B. leibliche Organprozesse oder auch die Kraft menschlicher Biographien. Aber die Lebensprozesse der Natur oder im Sozialen beispielsweise scheinen zunehmend zu zerfallen, wenn der Mensch selbst keine Aufbauprozesse hervorbringt. Dies weist wiederum auf die andere Grenze hin, nämlich auf diejenige Grenze des bewussten Erlebens im Denken. Dabei stößt der Mensch mit seinem zunehmend abstrakt werdenden Denken daran, dass sein Denken selbst ihm wirklichkeitsfremd, unbegreiflich und leblos wird: In der Vorstellung und in der Abstraktion lebt immer weniger von der umgebenden Wirklichkeit. Aber grade auch diese Grenze des Abstrakten, an der wir uns bis in den Alltag hinein aufhalten und woran wir uns gewöhnt haben, scheint durchlässiger zu werden. Hängt nicht die zerfallende Lebensentwicklung mit dieser Abstraktionsgrenze zusammen? Denn den Zerfallsprozessen wirken wir nicht dadurch entgegen, dass wir das noch Lebendige intensivieren, und auch nicht in der Intensivierung des Erlebens selbst, sondern vielmehr mittels der Frage, wie im Umgang mit dem abstrakten Denken neues Leben entstehen bzw. wie eine Überwindung der Abstraktion erfolgen kann. Die menschliche Seele findet sich also heute gewissermaßen aufgespannt zwischen beiden Grenzen, zwischen den Übergang zu dem zunächst unbewussten Lebensbereich einerseits, und andererseits zu einem noch zu erschließenden Denkbereich, an dem ein zukünftiges Leben ertastet werden kann.

Doch wie gelingt der Schritt, der über die Abstraktion hinaus zu einem neuen Leben führen kann? Für viele scheint es eine Herausforderung zu sein, sich überhaupt an diese Grenze zu trauen und sich dort aufzuhalten, wo das Gewusste nicht mehr reicht, wo nichts mehr herzuleiten ist, wo die eigene Ausstattung und die Lebensumgebung nicht mehr trägt. Das, was ich mitbringe, ist an der Grenzsituation nicht mehr entscheidend, sondern zunehmend hängt die Weiterentwicklung von einer eigenen Tätigkeit ab. Dem einzelnen Menschen stellt sich die Frage, an welchen inhaltlichen Stellen er sich eigentlich bewegt, auf welche geistige Bezugspunkt er zugeht. Was ist persönlich meine gegenwärtige Grenzsituation? Diese betrifft sowohl eine Begriffsgrenze in der Unwissenheit eines Neuen als auch einen zu Ende gekommenen Lebensprozess, eine Krankheit, ein biographische Krise oder die zerfallende natürliche Umgebung. Aber wie kann die Beschäftigung mit einer Sache zur Entwicklung von etwas Neuem führen? Wie kann dafür gesorgt werden, dass das Denken nicht in Vorstellungen, in Vergangenem hängen bleibt? Wie kann die Lebensfremdheit der Abstraktion überwunden werden?

 

Tasten

Wenn ich mich einerseits für eine Sache, für ein Lebensproblem interessiere, und wenn ich  im Denken nicht weiter weiß, wenn meine Begriffe ins Leere führen, kann ich in dieser unangenehmen Lage versuchen abzuwarten, ob mir etwas entgegenkommt. Denn wenn an dieser Stelle eine Sensibilität für etwas entsteht, wenn eine auch unscheinbare Empfindung hervorgeht, dann deutet sich schon damit eine Kraftdimension an, die neben der Abstraktion entsteht. Es ist eine Art von Tastprozess, ein Abtasten von einem noch entstehenden Neuen. Diese aufkommende Empfindung, wie leise sie anfangs auch sein mag, ist wiederum schon Wirksamkeit, ist entstehende Wirklichkeit. An der Grenze des Möglichen können Lebensanfänge, Bewegungs- oder auch Gesundungsansätze entstehen. Diese Empfindung beginnt schon, wenn im Leben die eigene Bewegung im Denken bemerkbar wird, wenn ein Empfinden der eigenen Tätigkeit spürbar wird. Dann kann langsam das individuelle Erleben zunehmend gefüllt werden von dieser Eigenbewegung im Umgang mit dem noch Ungreifbaren. Die freie Tätigkeit in der Denkanstrengung kann als eine Tastbewegung und als Erlebnisschicht zunehmend wahrnehmbar werden, sie prägt die individuelle biographische Bewegung.

Paradoxerweise sind nicht solche Begriffe real, die an der Erfahrung haften, die vorstellungshaft oder deskriptiv sind, sondern grade solche, mit denen der Mensch an einer Grenze seiner Verstandesfähigkeit kommt. Je abstrakter der Begriff, je stärker dabei die Denkanstrengung mit ihm ist, umso eher kommen wir dazu, Entwicklungsmöglichkeiten zu bemerken und zu stiften, gerade in der Dünnheit des Begriffs, im Erleben der abstrakten Denkschicht. Insbesondere solch dünne Begriffe scheinen in der Lage zu sein, mit Lebensentwicklungen umzugehen. Aber sie benötigen einen Bezug zum Leben. Ich verliere mich, wenn der dünne Begriff sich ablöst von einem realen Lebensproblem, von einem echten Anliegen an der Sache. Wenn spürbar wird, dass das eigene Thema, dass der Inhalt der eigenen Beschäftigung anfängt, mit einem Selbst etwas zu machen, beginnt mit dieser Wirkung und ihren Folgen im eigenen Leben eben eine Entwicklung.

Damit scheint eine Entwicklungsschicht aufzugehen, bei der die abstrakte Denkschicht die Lebensgrenze, den kritischen Endpunkt einer Lebensentwicklung berührt. Der abstrakte Begriff kann auf die fragile und fraglich gewordene Lebensentwicklung antworten. Aus dem dünnen Begriff geht insofern ein anfänglicher Bewegungsansatz, eine zuerst vielleicht minimale Entwicklung im Leben hervor. Damit öffnet sich gewissermaßen ein mittleren Bereich, wo die entstehende, leise Empfindung zugleich Lebensbewegung ist. Es entsteht ein Erlebensbereich, in dem eine neue Lebenswirklichkeit aufgespürt werden kann. Und es entsteht dadurch eine situative Berührung der Lebens- und der Erlebensseite im Menschen. Die Grenze zwischen Bewusstsein und Leben öffnet sich und dadurch entsteht ein neuer Bereich, bei dem das menschliche Erleben sensibel wird für die Lebensseite, und die Lebensseite auf das Erleben, auf das Miterleben zunehmend angewiesen ist. Lebensvorgänge und Bewusstseinsprozesse stehen in diesem Sinne nicht mehr nebeneinander, sondern es entsteht ein Zwischenraum aus der gegenseitigen Sensibilität. Mit dieser Berührung können sich auch problematisch, pathologische, konflikthafte Situationen weiterentwickeln. Es scheint eine individuelle und gesellschaftliche Aufgabe darin zu liegen, sich in diesem Spannungsfeld zu halten, eine Sensibilität für Lebensprozesse zu entwickeln und zugleich Begriffe zu bilden, die an der Lebensgrenze weiterbringen. Darauf warten problematisch gewordene Lebenssituationen.

Kann ich bemerken, ob aus einer solchen Auseinandersetzung bei mir selbst irgendeine Bewegung oder Sensibilität hervorgeht? Kann ich etwa eine Spannung oder Konfrontation mit dem, was ich mitbringe bemerken? Dies wäre eigentlich eine Grundlage für ein Seelenbegriff, für eine Psychologie des Ich, die selbst aus dem Vollzug der Eigentätigkeit, aus dem Erlebnis der Lebensgrenze, aus der Konfrontation mit der Abstraktion und der aufkommenden Lebensbewegung hervorgeht. Grade diese Erlebnisschicht ist seelenschaffend, wenn ich mich an der Grenze aufhalte und mich mit ihr auseinandersetze.

Dann kommt die Herausforderung, sich mit den Auswirkungen zurecht zu finden, das innere Erleben zu handhaben oder auszusprechen. Und damit kommt auch die Frage, wie sich diese Wirksamkeit mit der individuellen Intention, mit einer Tätigkeit im eigenen Umfeld verbinden kann. Dann kann die ins Leben getragene, ursprüngliche minimale innere Bewegung bis in den individuellen Alltag herein ihre Bewegung entfalten. Aus dem Geschehen des Kolloquium, aber auch in der Zeit danach war zu spüren, wie die gemeinsame Auseinandersetzung diese Schicht von Lebensentstehung berührte und herausforderte.

 

David Richardoz, Alfter