3. April 2022

Geisteswissenschaftliche Merkmale der Schwelle


Im Nachklang zweier Veranstaltungen der Forschungsstelle erscheint es mir hilfreich einen älteren, aber heute sehr aktuellen Aufsatz von Wolf-Ulrich Klünker hier zu veröffentlichen. Er gibt Orientierung im Bereich der Schwelle, die ja, wie wir in den Veranstaltungen bemerkt haben immer mehr unsere Lebensrealität geworden ist. R.W.

Das Bewusstsein für individuelle und kollektive Grenzsituationen hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Die innere wie die äußere Wirklichkeit zwingt zu der Anerkennung der Tatsache, dass Lebensführung und Seelenkonstellation an eine Grenze gekommen sind, deren «Jenseits» sich aus Erfahrungen der Vergangenheit allein nicht mehr erschließen lässt. Wenn aber die Grenze selbst und dasjenige, was hinter der Grenze liegt, als Unbekanntes bewusst erlebt wird, so kann aus dem Grenzerlebnis durchaus eine Schwellenerfahrung werden.

Es erübrigt sich fast, die erreichten Seins- und Entwicklungsgrenzen noch einmal zu erwähnen: die Grenze der wirtschaftlichen Entwicklung und damit das Problem der menschlichen Arbeit schlechthin; die näher rückende Schwelle zur elementarischen Welt, die sich immer wieder in zugespitzten Naturzuständen zeigt; die Grenzen eingespielter politisch-sozialer Verhaltensweisen und der ethnischen Koexistenz; die seelischen Grenzen im Erleben des anderen Menschen und der eigenen Selbstheit; schließlich auch die immer stärker erlebten Grenzen wissenschaftlicher Orientierung, die wieder spirituelle Räume kulturfähig erscheinen lassen. – Vielleicht können diese und ähnliche Phänomene als Symptome für die Entwicklungssituation der Bewusstseinsseele gewertet werden, deren unbewusste Dimension Rudolf Steiner als einen kollektiven Schwellenübertritt der Menschheit bezeichnet hat. Eine menschlich und geistig getragene Fortentwicklung des individuellen Ich und damit der Menschheit ist geisteswissenschaftlich gesehen nur möglich, wenn der unbewusste allgemeine Schwellenübertritt individuell bewusst, also geistig wach mit-, nach- und vor- vollzogen wird.

Leben und geistige Realität rücken an der Schwelle so eng zusammen, dass sie fast identisch werden und verwechselt werden können. Die früheren Erkenntnisgrenzen für den Einblick in die geistige Welt werden zu irdischen Lebens- grenzen mit seelischen Schwellenerlebnissen. Individuelle Lebenslage und seelische Innensituation spiegeln die objektive Wirklichkeit einer Entwicklungsgrenze der Menschheit. An diesem Berührungspunkt von Innen und Außen stellt sich häufig der Eindruck ein: So kann und darf es nicht weitergehen. Das Gefühl der Unerträglichkeit, gleichzeitig aber auch der Machtlosigkeit zur Änderung; die Suche nach neuer Kraft, wenn die aus der Vergangenheit wirkenden Kräfte sich biographisch erschöpfen; die Sehnsucht nach seelisch-geistiger Tragfähigkeit, wo die mitgebrachten Erlebnisweisen und Beziehungen sich als illusionär erweisen – alles Hinweise auf die Notwendigkeit, die Merkmale der Schwelle geisteswissenschaftlich zu verstehen.

Die Schwellennähe vor der Schwelle wird zunächst erlebbar in der Empfindung, dass alle biographisch (und vielleicht auch karmisch) mitgebrachten, d. h. sich aus der Vergangenheit bestimmenden Orientierungen letztlich nicht weiterhelfen. Eine Empfindung in Schwellennähe, die die Schwelle bereits berührt, kann beispielsweise in dem Eindruck liegen, dass alle Seelen-, Leibes- und Lebensverhältnisse sich zu chaotisieren beginnen, ohne dass Neuausrichtung und Ordnung abzusehen wäre (das gilt auch für bisherige geistige Orientierungen). Wird dann die Schwellennähe und die Existenz auf der Schwelle bewusst angenommen, so zeigt sich die Notwendigkeit, situative Urteils- und Entscheidungsfähigkeit auszubilden; in innerer Aufrichtigkeit auf die eigene Situation zu blicken («schonungslos»); für die weitere Lebensgestaltung, aber auch für die persönliche Stimmung des seelischen Seins und für zwischenmenschliche Beziehungen eine Grundsituation zu akzeptieren, die offen und risikobehaftet ist.

Eine erste Empfindung von einer Ich-Dimension jenseits oder hinter der Schwelle könnte dann entstehen, wenn das Gefühl des intuitiv Neuen sich zeigt; eventuell auch von Ein- sichten, die nicht bewusst vorbereitet waren, sich aber nun aus der Grundhaltung von situativer Aufmerksamkeit ergeben; daraus kann dann eine innere und äußere Lage des Ich entstehen, die eine neue Anknüpfung an die eigene biographische und schicksalhafte Vergangenheit ermöglicht. Es zeigen sich unter Umständen neue Linien aus den verschiedenen Vergangenheitsregionen, die aber im Unterschied zu früher nicht mehr der Vergangenheitsverursachung unter- liegen, sondern eigentümlich «frei» wirken können. Das Ich spürt sich als Ursache seiner selbst und gerade darin in einem umfassenden geistigen Zusammenhang; Freiheit und geistige Bestimmung verschmelzen immer mehr zu einer Lebenssituation des Ich, die willensgeprägt ist: Intention, Leben und Erleben sind immer weniger zu trennen.

Wolf-Ulrich Klünker: Anthroposophie als Ich-Berührung. Dornach 2013 (2. Auflage), S. 51-53

Ein Beitrag von Roland Wiese auf seinem Blog bearbeitet ebenfalls dieses Thema.