Heilpädagogischer Kurs – chinesisch
Die chinesische Ausgabe des Heilpädagogischen Kurses von Rudolf Steiner von 1924 ist 2020 erschienen. Wolf-Ulrich Klünker hat ein Vorwort verfasst, das die Intention und den Inhalt des Kurses sehr gut zusammenfasst.
Der Heilpädagogische Kurs Rudolf Steiners markiert im Juni 1924 den Beginn der anthroposophischen Heilpädagogik. Die Vorträge wurden vor einem kleinen Kreis von Zuhörern gehalten, enge Vertraute Rudolf Steiners sowie Praktiker der Pädagogik und der Therapie. Der Kurs bringt – weit über das Gebiet der Heilpädagogik hinaus – völlig neue anthropologische, psychologische, psychiatrische und medizinische Grundlagen, die bis heute weder von der anthroposophischen noch von der außeranthroposophischen Forschung hinreichend gewürdigt werden konnten. Die menschliche Individualität, das Ich, wird nicht nur als subjektive Innerlichkeit, sondern gerade in seinem Denken als leibschaffende Kraft begriffen.
Mit dieser grundsätzlichen Perspektive nimmt Rudolf Steiner das alte psychologische Prinzip anima forma corporis (die Seele als Form des Leibes), das aus der aristotelischen Wissenschaftstradition stammt, wieder auf, und bestimmt es für eine zukünftige Menschenkunde und Therapie neu – einschließlich der individualitätsbegründenden Kraft des Denkens, die die Menschenkunde des Aristotelismus von Anfang an herausgearbeitet hatte. Dieser Schritt war epochal und kann in seiner Bedeutung vielleicht erst heute, nahezu hundert Jahre später, vollständig erfasst werden. Denn die Anthropologie, Psychologie und Psychiatrie des 20. Jahrhunderts hat das umgekehrte Prinzip zur vollen Geltung gebracht: nicht die Seele als Form des Leibes, sondern umgekehrt: der Leib als bestimmende Kraft seelischen Geschehens zu verstehen. Erst die hirnphysiologischen Forschungen der jüngsten Vergangenheit haben wieder herausgearbeitet, dass menschliche Organe, insbesondere das Gehirn, außerordentlich stark plastisch auf mentale und sensible Prozesse reagieren.
Gleich zu Beginn unterscheidet Rudolf Steiner das nur „symptomatische“ und das „eigentliche“ Seelenleben: ersteres wird normalerweise von Psychologie und Psychiatrie untersucht; es entfaltet sich als Reflex auf körperliche Prozesse. Das „eigentliche“ Seelenleben dagegen bezeichnet diejenige individuelle Kraft, die den Organismus aus eigener geistiger Vergangenheit embryonal aufbaut und in der Biografie gestaltet. Damit ist auch eine Perspektive vorgeburtlicher und nachtodlicher Existenz in die Psychologie aufgenommen. Es handelt sich hier also um eine konsequente Wissenschaft der Ich-Entwicklung, die an den Grenzen von Geburt und Tod nicht haltmacht, sondern die Schicksalsentwicklung über verschiedene Inkarnationen in der vorgeburtlichen und nachtodlichen Existenz mit einbezieht.
Die inhaltliche Hauptperspektive besteht in einer Neubestimmung des Verhältnisses von Bewusstsein und Sein, Erleben und Leben. Das Denken als entscheidende geistig-seelische Kraft des Menschen wird nicht in seinem Inhalt, sondern in seinem (meist unbewussten) Krafthintergrund, der es mit der Individualität verbindet, als leib- und wirklichkeitsschaffend verstanden. Der so gebildete Organismus wirkt biografisch als Grundlage des leibgestützten Bewusstseins. Die Ich-Entwicklung hat in der Gegenwart die Möglichkeit erreicht, die eigenen geistigen, d.h. leibschaffenden Voraussetzungen wieder zu erkennen und diese Erkenntnis zur Grundlage einer neuen wissenschaftlichen Menschenkunde und eines neuen Krankheitsverständnisses auszugestalten.
Die Individualität kann sich im Prinzip mit zwei Krankheitsrichtungen konfrontiert sehen: zum einen mit überformenden und verkrampfenden Kräften, wenn Bewusstseinsprozesse zu stark in das Organgeschehen hineinwirken; andererseits mit leiblich und seelisch entgrenzenden Prozessen, wenn die seelische Kraft nicht stark genug formend in das Organgeschehen eingreifen kann. In Anlehnung an die ältere Psychiatrie bezeichnet Rudolf Steiner diese beiden Krankheitsrichtungen als Epilepsie und Hysterie; für ein Verständnis seiner Darstellung ist aber wichtig, beide Begriffe nicht in dem engeren Sinne psychiatrischen Denkens, sondern als formverhärtende und damit lebengefährdende bzw. als formauflösende und damit entgrenzende individuelle Tendenzen aufzufassen.
Der Heilpädagogische Kurs besteht aus zwei Teilen: im ersten werden die oben beschriebenen menschenkundlichen Grundlagen entfaltet, im zweiten folgen Fallbesprechungen von Kindern und Jugendlichen. Allerdings werden – und das ist methodisch überaus interessant – die Grundlagen des ersten Teils im zweiten nicht direkt therapeutisch exemplifiziert. Rudolf Steiner greift wenig auf seine Darlegungen der ersten Vorträge zurück. Hier zeigt sich ein methodisches Prinzip, das gerade unter den Bewusstseinsseelen-Bedingungen des 21. Jahrhunderts über Zeiten und Kulturen hinaus prägend werden kann: Die menschenkundlichen Grundlagen, die Begriffe vom Menschen, die mein Denken und Erleben bestimmen, werden in der Praxis nicht einfach „angewendet“ oder „umgesetzt“, sondern durch meine geistige Arbeit am Verständnis des Menschen verwandele ich mich so, dass ich in der gegebenen Situation das individuelle, selbst zu verantwortende pädagogische und therapeutische Empfinden ausbilde, das heilend wirken und entsprechende Maßnahmen erspüren kann.