30. Juni 2021

Denken, Fühlen und Wollen


Ein Beitrag von Wolf-Ulrich Klünker zur Wissenschaftlichkeit von Anthroposophie und anthroposophischer Menschenkunde: Denken, Fühlen, Wollen. Er wird veröffentlicht in dem Forschungsprojekt ARS-Studien. Das Forschungsprojekt ARS-Studien will die Grundlagen einer anthroposophischen Menschenkunde erschließen und als Studienmaterial für Studierende und Forschende zur Verfügung stellen. Das Projekt findet im Rahmen einer Zusammenarbeit des Fachbereichs Bildungswissenschaft an der Alanus Hochschule und der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der freien Waldorfschulen statt. 

 

https://delos-forschungsstelle.de/wp-content/uploads/2021/07/DenkenFuehlen-und-Wollen.ARS_.pdf


Denken, Fühlen und Wollen

(Wille und Vorstellung)

 

Wolf-Ulrich Klünker

Anthroposophie und anthroposophische Menschenkunde, als Wissenschaft verstanden, beruhen auf einer wissenschaftlich sonst ungewohnten Voraussetzung. Sie teilen diese Voraussetzung mit therapeutischen Wissenschaften und vielleicht auch mit einer nichtobjektivistischen Psychologie: Ich selbst bin vom wissenschaftlichen Prozess angesprochen; ein nur distanzierter wissenschaftlicher Blick reicht nicht aus; Subjekt und Objekt der Untersuchung sind nicht zu trennen; ich selbst werde mir zum Erkenntnisobjekt. Letztlich gilt vielleicht sogar, dass keine Erkenntnisentwicklung ohne Selbstentwicklung möglich ist und dass umgekehrt erst aus dem Erkenntnisfortschritt eine geistige Selbstaktivierung möglich wird. Eine so verstandene psychologische Wissenschaft kann nicht auf Selbsterkenntnis verzichten. Die Psychoanalyse beruht nicht nur als therapeutische Praxis, sondern auch als wissenschaftliches Verfahren auf der Lehranalyse.

 

Die Bedeutung der Grenze

Anthroposophie beruht als Wissenschaft vom Menschen auf einem zweifachen Grenzerleben: einer gleichsam existentiellen Grenzerfahrung und einer geistigen. Rudolf Steiner spricht im zweiten anthroposophischen Leitsatz, also in dem damals zukunftsgerichteten Ansatz seines Spätwerks, von einer Grenze, an die das „tägliche Leben“ führt, an die aber auch die „Wissenschaft“ führt.[1] Man kann die existentielle Grenze als Grenze des Gefühls und des Willens betrachten, die geistige als Grenze des Denkens. In jeder Biografie treten Probleme und Krisen bis in schwerwiegende existentielle Dimensionen hinein auf; intensive Gefühlserlebnisse erfordern neue und ungewohnte Willensanstrengungen. Die geistige Grenze haben das „tägliche Leben“ und die „Wissenschaft“ gemeinsam: das fühlende und erkennende Subjekt kann bemerken, dass eine willensgetragene Weiterentwicklung des eigenen Denkens notwendig ist, um einen bestimmten Zusammenhang verstehen und auflösen zu können.

 

Eine umfassende anthropologische, aber auch individuelle Grenze des Denkens wurde von Rudolf Steiner in einem weiteren „Leitsatz“ in eine interessante Perspektive gestellt; hier berühren sich die Grenze des Denkens und die Grenze des Lebens in überraschender Weise: „Eine unbefangene Betrachtung des Denkens zeigt, dass die Gedanken des gewöhnlichen Bewusstseins kein eigenes Dasein haben, dass sie nur wie Spiegelbilder von etwas auftreten. Aber der Mensch fühlt sich als lebendig in den Gedanken. Die Gedanken leben nicht; er aber lebt in den Gedanken.“[2] Hier findet, gleichsam als absolute Grenze des Denkens, ein anthropologisch fundamentaler Übergang von der Unwirklichkeit in die Realität statt. Das Denken wird in seinem irrealen Abbildcharakter radikal durchschaut und affirmiert; gerade aber durch diese Konsequenz erscheint eine Wirklichkeitsebene des Denkens, die nicht mehr in ihm selbst liegt. Gerade das abstrakte und rein abbildhafte Denken bildet unbemerkt die Lebensgrundlage des Menschen – ein anthropologisches Grundmotiv, das auch in der älteren aristotelischen Psychologie anzutreffen ist. Beispielsweise betont im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts Albertus Magnus in seiner individualpsychologischen Grundschrift „De unitate intellectus“: „Wie das Leben für die Lebendigen das Sein ist und das Empfinden das Sein ist für die Empfindenden, so ist das Denken das Sein für die Denkenden (ita intelligere est esse intelligentibus).“[3] Man kann davon ausgehen, dass Rudolf Steiner diesen konkreten geistesgeschichtlichen Hintergrund nicht im Bewusstsein hatte, zumal die Albertus-Forschung im ersten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts nicht weit fortgeschritten war. In der mittelalterlichen Stelle kommt zum Ausdruck – übrigens in direkter Bezugnahme auf Aristoteles, den Begründer der Psychologie als Wissenschaft –, dass das Lebensprinzip gewissermaßen von „oben her“ zu verstehen ist. Das Leben ist den Lebendigen (also den Pflanzen),  den Empfindenden (den Tieren) und den Denkenden (den Menschen) gemeinsam. Aber nur die Pflanze lebt in ihrem (biologischen) Leben; das Tier lebt in seinem Sinnes- und Empfindungsprozess, und der Mensch lebt in seinem Denken.

 

Selbstverständlich lebt der Mensch auch als biologisches Wesen wie die Pflanze und als Sinnes- bzw. Empfindungswesen wie das Tier; aber der Lebenszusammenhang bildet sich für den Menschen im Denken, beispielsweise in einer biografischen Perspektive mit Lebensabschnitten, Geburtstagen etc., in der sich auch widersprüchliche Lebens- und Erlebenserfahrungen integrieren. Diese Perspektive entspricht dem Grundprinzip aristotelischer Psychologie bis in das Verständnis des menschlichen Organismus hinein; das Grundprinzip lautet „anima forma corporis“. Die menschliche Seele, in der mittelalterlichen Terminologie die anima intellectiva bzw. der intellectus, wirkt in irgendeiner Weise als Form- und Bildekraft im menschlichen Organismus. Dieses Grundprinzip tritt, allerdings ohne jede Anknüpfung an die aristotelische Tradition im Sommer 1924 im „Heilpädagogischen Kurs“ Rudolf Steiners in veränderter terminologischer Fassung wieder auf, und zwar als grundsätzliche anthropologische und als therapeutisch-heuristische Perspektive.[4] Auch der „Heilpädagogische Kurs“ zählt zum damals zukunftsgerichteten anthropologischen Spätwerk Rudolf Steiners. Er umfasst Grundlagen der Psychiatrie, Psychotherapie und Medizin; werk- und motivgeschichtlich interessant ist, dass der oben zitierte Leitsatz 59 am 6. Juli 1924 veröffentlicht wurde, also kurz vor dem Abschluss des „Heilpädagogischen Kurses“.

 

Metamorphose des Denkens

Die radikale Perspektive des Leitsatzes 59 überwindet die Erkenntnis- bzw. Wirklichkeitsgrenze des Denkens, indem von der bewussten Inhaltsseite des Denkens auf die untergründige Wirksamkeit des Denkens als (meist unbewusste) Lebenskraft verwiesen wird. Damit ist eine entscheidende Wende vollzogen, anthropologisch, psychologisch und auch methodologisch: im Hinblick auf eine Wissenschaft, die die Existenzial- bzw. Lebensseite mit umfasst. Anthroposophie als Wissenschaft beruht auf einer Intensivierung des Denkens mit dem Ziel, die unbewusste Lebens- und Wirkungskraft in ihm bewusstseinsfähig zu machen – ohne es zu abstrahieren, d.h. ohne diese Kraft zu gefährden. Damit wären die Alternative Bewusstsein oder Leben, Sein oder Bewusstsein, Erkenntnis oder Wirklichkeit überwunden.

 

Knapp sechs Jahre vor dem den oben wiedergegebenen Formulierungen hatte Rudolf Steiner erste Schritte im Hinblick auf eine entsprechend zu konzipierende Psychologie skizziert. In einem seiner Notizbücher finden sich Eintragungen zur Vorbereitung eines Vortrags mit dem Titel „ Der geisteswissenschaftliche Aufbau der Seelenforschung“ (10. Oktober 1918); der Vortrag wurde in einer Reihe zum Verhältnis von Anthroposophie und Wissenschaft gehalten.[5] In der ersten Notizbucheintragung heißt es: „Die alte Seelenlehre geht ihrem Sterben entgegen; ihre Begriffe: Vorstellung, Gefühl, Wille, Aufmerksamkeit etc. sind nur noch Worte. Die Physiologie erhebt den Machtanspruch, über die seelischen Erlebnisse Aufschluss zu geben.“[6] Steiner diagnostiziert hier für seine Zeit einen Wirklichkeitsverlust psychologischen Denkens, gleichsam einen nominalistischen Verfall vom Begriff zum Wort. Demgegenüber zeigte sich die Tendenz, die Wirklichkeit seelischer Prozesse in zugrundeliegenden (hirnphysiologischen) Vorgängen zu suchen, um so den Realitätsverlust psychologischen Denkens zu überwinden. – Es ist hier nicht der Ort, auf Einzelheiten dieser wissenschaftshistorischen Situation einzugehen; ihre Tendenz lässt sich aber beispielsweise an der Perspektive Sigmund Freuds ablesen, dass sein psychoanalytischer Therapieansatz in absehbarer Zeit durch biologisch-pharmakologische Entwicklungen abgelöst werden würde.

 

In der Eintragung Rudolfs Steiners deutet sich an, dass eine zukünftige Psychologie das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit so zu entwickeln habe, dass auch die Beziehung von seelischen und körperlichen Vorgängen genauer gefasst werden kann. Zudem wird auch an dieser Stelle, ähnlich wie in Leitsatz 2, das Verhältnis von wissenschaftlichem Denken und öffentlichem Bewusstsein zum Ausgangspunkt der Betrachtung: „Die Seelenlehre ist Gelehrtenangelegenheit geworden. Doch hat sie einen Inhalt, der jeden Menschen angeht.“[7] Neben der Akademisierung der Psychologie klingt hier auch ein weiteres Motiv des 2. Leitsatzes an, nämlich die existentielle Bedeutung dieses Wissenschaftsgebiets; es lässt eigentlich keine akademische Abgehobenheit zu. Nun soll allerdings an die Stelle der nur für Experten verständlichen Fachwissenschaft nicht eine volkstümliche Allgemeinbildung oder therapeutisch-erbauliche Literatur treten, sondern eine neue Wissenschaft. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass ihr Denken gerade in der Einlösung des Wissenschaftsanspruches nachvollziehbar, plausibel und damit wirksam ist. „Eine neue Seelenlehre wird so wissenschaftlich sein, als die alte es wollte; sie wird zugleich eine Sprache finden, welche von allen verstanden wird, zu denen die Fragen des Daseins sprechen.“[8]

 

In dem Vortrag vom 10. Oktober 1918 (und ansatzweise auch in den vorbereitenden Notizbucheintragungen) wird ein solches Vorgehen, das man vielleicht als modernen Begriffsrealismus bezeichnen könnte, am Verständnis des Gefühls exemplifiziert. In aller Kürze könnte man diese „Methode“ als einen Weg beschreiben, sich für die gefühlsbildende Kraft in der eigenen Biografie zu sensibilisieren. Die Psychologie liefert dann also nicht eine Theorie des Gefühls oder ein Modell der Gefühlsbildung, sondern einen Begriffszusammenhang, der in der Lage ist, die Eigentätigkeit in der Gefühlsbildung zu bemerken und weiterzuentwickeln. Es wird nämlich vorgeschlagen, für jedes Gefühl, auch das kleinste, Subjekt und Objekt zu unterscheiden. Nur in der Sinneswahrnehmung und in der Vorstellung sind Subjekt und Objekt so unterschieden, dass das Subjekt gleichsam innerhalb des Menschen und das Objekt außerhalb des zentralen Subjekts liegt. Beim Gefühl dagegen sei das Objekt stets die eigene Biografie in ihrer Vergangenheit (von Geburt an), während die eigene biografische Zukunft das Subjekt bilde: In jedem Gefühl nehme ich selbst als Zukunftsmensch mich selbst als Vergangenheitswesen wahr. Dadurch entsteht von Moment zu Moment der Lebensaugenblick, die Gegenwart. Man könnte hinzufügen, dass die gemeinte Sensibilisierung für den biografischen Prozess der Gefühlsbildung nicht zu einer begrifflichen Deutung des Gefühls, sondern lebensrealistisch zu einem Aufwachen im Lebensaugenblick führt. Selbst „moderne“ psychologische Fragestellungen wie das sich immer mehr ausbreitende Depressionsproblem könnten so in einem neuen Licht erscheinen,  nämlich als Vorherrschen der Bezugnahme auf die eigene biografische Vergangenheit gegenüber der Intentionsbildung im Hinblick auf die Zukunft: die Subjektseite des Gefühls tritt in den Hintergrund.[9]

 

Es ist deutlich, dass ein solcher „begriffsrealistischer“ Ansatz den Leser bzw. Rezipienten sofort einbezieht und in seiner Eigentätigkeit involviert. An diesem Beispiel kann man sich verdeutlichen, wie sich für Rudolf Steiner eine Zukunftsöffnung einer individuell und gesellschaftlich wirksamen Wissenschaft konkretisierte. „Man wird in der Zukunft eine Seelenlehre haben, wenn man diesen Weg einschlagen will: eine Seelenlehre für jeden Menschen, nicht bloß für die Gelehrtenstube – oder man wird keine Seelenlehre haben. Die Seelenlehre, welche sich in die Gelehrtenstube verkroch, wurde mit dem Verlust des für den Menschen bedeutungsvollsten Wissenswerten bestraft; die Seelenlehre, welche sich nicht scheuen wird, das Seelisch-Geistige zu suchen, wird Lebenskraft, Lebenszuversicht, Lebenssicherheit für jeden Menschen geben.“[10] In der prognostizierten Negativalternative, dem Verlust der Seelenlehre, klingt einerseits die Gefährdung des Seelenbegriffs in der wissenschaftlichen Psychologie an, andererseits die Tendenz, ein seelisches Verständnis durch physiologische Überlegungen zu substituieren; dann wird man eben „keine Seelenlehre haben“. Das „bedeutungsvollste Wissenswerte“ sieht Rudolf Steiner, wie die folgende Formulierung zeigt, in einem umfassenden Selbstverständnis des Menschen mit unmittelbar wirksamer Entwicklungskraft.

 

Entscheidend ist für ein Verständnis des wirksamen Begriffsrealismus, und damit auch für eine Weiterführung des hier skizzierten Ansatzes: Die Begriffsbildung selbst, der Begriffszusammenhang als solcher wirkt auf den Menschen, sofern sich dieser ernsthaft darauf einlässt und sich damit verbindet. Man kann hier nicht mehr in gewohnter Weise zwischen Theorie und Praxis, Wissenschaft und Leben, Begriff und Wirklichkeit unterscheiden. Die wissenschaftliche Begriffsbildung selbst wird lebensrelevant; das bedeutet für die Psychologie, dass sie bereits in der Theorieebene ihrer Forschung und nicht erst in der therapeutischen Anwendung therapeutisch wirkt. Eine solche Kraftwirksamkeit wäre natürlich auch in problematischer Weise zu denken: dass nämlich falsche bzw. unrealistische Begriffsbildungen zumindest indirekt pathologisierende Wirkungen ausüben können, selbst, wenn sie „inhaltlich“ anders intendiert sind. Hier zeigt sich im Wirklichkeitsbezug der Erkenntnisbildung selbst eine ethische Dimension der Wissenschaft, nicht erst in einer externen Beurteilung von Folgewirkungen.

 

Denken und Leben

Der Leitsatz 59 hatte verdeutlicht, dass die Realitätsbeziehung des Denkens bemerkt werden kann, wenn man seine Lebenswirkung ins Auge fasst. Der Begriffszusammenhang von Subjekt und Objekt im Gefühl hat sich als eine Begriffsbewegung gezeigt, in der die gefühlsbildende Kraft in der eigenen Biografie erreicht werden kann – jenseits von Theoriebildung oder Modelldenken. Ein ähnlicher Lebensbezug der Begriffsbewegung erscheint auch in Steiners „Votum zur Psychiatrie“ aus dem Jahre 1920; dabei handelt es sich um einen spontan gehaltenen Diskussionsbeitrag zu dem Thema einer zukünftigen Psychiatrie. Rudolf Steiner räumt hier ein, „dass man gerade für die Psychiatrie keine in Betracht kommende Methode leicht finden kann“.[11] Dann führt er aus, dass ein neuer Umgang mit Begriffen erreicht werden müsse, dass die Psychiatrie lebendige Begriffe ausbilden müsse; “dass sie wiederum von den bloß abstrakten Begriffen, die kein innerliches Leben haben, zu wirklichkeitsgemäßen Begriffen führen wird, zu solchen Begriffen, die als Begriffe schon in der Welt leben, die gewonnen sind dadurch, dass man mit seinen Methoden in die Wirklichkeit untertaucht. Dann wird man, indem man zu solchen geistigen Methoden aufsteigt, die wiederum wirklichkeitsgemäße Begriffe liefern, von solchen Begriffen, die jetzt nicht bloße Abstraktionen sind, den Übergang finden zu dem, was Wirklichkeit ist. Das heißt, man wird eine Brücke schlagen können zwischen dem Psychischen und dem Physischen im Menschen. Es muß das Psychische und das Physische in der Vorstellung anders aussehen, als es heute aussieht, wenn man eine Psychiatrie im Ernste will.“[12]

 

Am Ende der zitierten Passage klingt die entscheidende Intention an: zu verstehen, wie sich im Menschen physische und psychische Existenz verbinden. Dieses Motiv hatte einige Jahre zuvor auch Steiners wichtige Grundlagenschrift „Von Seelenrätseln“ bestimmt, und auch der „Heilpädagogische Kurs“ des Jahres 1924 wurde als sowohl erkenntnisleitender wie auch praktischer Beitrag zu dieser Frage konzipiert. Die „Brücke“ zwischen physischen und psychischen liegt im Sinne des „Votums zur Psychiatrie“ wieder in der Verbindung von Begriff und Leben. Begriffe mit „innerlichem Leben“ werden zu „wirklichkeitsgemäßen“ Begriffen; diese sind dadurch charakterisiert, dass sie bereits als Begriffe „in der Welt leben“. – Offenbar besteht eine gewisse Gegenseitigkeit bzw. Wechselwirkung zwischen Begriffen, Leben und Wirklichkeit. Wenn Begriff und Leben zusammenkommen, wird die Wirklichkeit zugänglich – oder es entsteht Wirklichkeit. Die „Methoden“, von denen die Rede ist, bestimmen sich offenbar durch dieses Wechselverhältnis. Auch hier zeigt sich wieder, ähnlich wie beim Zugang zur Gefühlsbildung, dass der lebendig denkende Mensch, der sich in seinen Begriffen mit dem Gegenstand verbindet, als unverzichtbares wissenschaftliches Subjekt in die Wissenschaft einbezogen werden muss. Am Ende des „Votums zur Psychiatrie“ wiederholt Steiner noch einmal nachdrücklich die Diagnose, „dass unsere Begriffe allmählich schwach geworden sind gegenüber der Wirklichkeit; sie müssen wiederum stark werden“.[13]

 

Die erwähnten Notizbucheintragungen konkretisieren in gewisser Hinsicht einen solchen verlebendigenden Umgang mit Begriffen. So ist hier zum Beispiel von einer Erweiterung der Erkenntnis die Rede, die möglich wird, wenn sich der Mensch „solcher Erkenntnismittel bedient, welche die Liebefähigkeit nicht zerstören und welche auf den Dienst keinen Anspruch machen, der dem Leben durch die Erinnerungsfähigkeit geleistet wird“.[14] In der nachfolgenden Eintragung wird noch angeregt, im Denken die „mit der sinnlichen Wahrnehmung verwobenen Gedanken von den nachgedachten“ zu unterscheiden.[15] Offenbar beruhen in dieser Auffassung die „nachgedachten“ Gedanken auf der Erinnerung, während diejenigen Gedanken, die den Wahrnehmungsprozess begleiten (meist unbewusst), aktuell erzeugt werden. In dieser Tätigkeit des Erzeugens könnte man einen lebendigen Prozess vermuten, in dem sich der Denkende nicht vom Erkenntnisobjekt distanziert, sondern sich mit ihm verbindet; insofern. wird dann nicht die „Liebefähigkeit“ gefährdet. – Es ist tatsächlich interessant, übungsweise darauf zu achten, welches Denken erinnerungsfrei möglich ist – und wie stark eine Erinnerungsleistung die Gedankenbildung beeinflusst. Man kann den Eindruck gewinnen, dass gerade in Grenzsituationen, die eigenaktives Denken erfordern, eine ganz andere Wirklichkeit des Denkens aufgeht, die sich sonst gleichsam hinter dem Rekurs auf bereits Gedachtes (oder Erlebtes) verbirgt. Auch in mündlichen oder schriftlichen Berichten von Erlebtem kann sich dieser Unterschied manifestieren, sobald man der Intention folgt, die Darstellung aus der gegebenen aktuellen Situation und möglichst unabhängig von Erinnerungsgedanken zu gestalten.

 

Psychische und physische Existenz

Die Veranlassung zum Verfassen der Schrift „Von Seelenrätseln“ lag für Rudolf Steiner im Tod des Psychologen Franz Brentano im Jahr 1917. Das Buch setzt sich aus drei Teilen  und „skizzenhaften Erweiterungen“ zusammen; es galt Rudolf Steiner selbst als wichtige wissenschaftliche Grundlegung einer neuen Psychologie an der Berührungsgrenze von Anthropologie und Anthroposophie. Welche Bedeutung diese zunächst unscheinbare Schrift, die bisher in ihrer erkenntnisbegründenden Dimension  innerhalb und außerhalb der Anthroposophie leider nur wenig Resonanz gefunden hat, für Rudolf Steiner selbst besaß, kommt in der sechsten Erweiterung zum Ausdruck: „Skizzenhaft möchte ich nun auch darstellen, was sich mir ergeben hat über die Beziehungen des Seelischen zu dem Physisch-Leiblichen. Ich darf wohl sagen, dass ich damit die Ergebnisse einer dreißig Jahre währenden geisteswissenschaftlichen Forschung verzeichne. Erst in den letzten Jahren ist es mir möglich geworden, das in Frage Kommende so in durch Worte ausdrückbare Gedanken zu fassen, dass ich das Erstrebte zu einer Art vorläufigen Abschlusses bringen konnte.“[16] Die grundlegende Bedeutung des Themas zeigt sich auch in der Publikationsform als schriftlich verfasstes Werk, dem im Unterschied zu der immer auch situativ geprägten Form einer mündlichen Darstellung eine allgemeinere und auch zeitlich weiterreichende Wirksamkeit zugedacht wird. Dies gilt für die Schrift „Von Seelenrätseln“ umso mehr, als  Steiner in ihr die erkenntnistheoretische Begründung der Anthroposophie am Berührungspunkt mit der (wissenschaftlichen) Anthropologie und damit auch mit anderen Humanwissenschaften sah.

 

Wieder steht die Beziehung von physischer und psychischer Existenz des Menschen im Mittelpunkt. Es wird eine Dreigliederung der seelischen Existenz des Menschen nach Denken, Fühlen und Wollen herausgearbeitet; von ihr aus ergeben sich Blickwinkel auf leibliche und geistige Dimensionen des Daseins.[17] Der Ansatz lässt sich durch zwei markante Beschreibungen der „sechsten Erweiterung“ charakterisieren: „Der Leib als Ganzes, nicht bloß die in Ihm eingeschlossene Nerventätigkeit, ist physische Grundlage des Seelenlebens. Und wie das letztere für das gewöhnliche Bewusstsein sich umschreiben lässt durch Vorstellen, Fühlen und Wollen, so das leibliche Leben durch Nerventätigkeit, rhythmisches Geschehen und Stoffwechselvorgänge.“[18] Hier wird eine weitreichende Perspektive eröffnet, indem der gesamte leibliche Organismus des Menschen als „Grundlage des Seelenlebens“ betrachtet wird – nicht nur der Nervenprozess vermittelt Seelentätigkeit und Bewusstsein. Dieser Leibbezug kann nach „Vorstellen“ (Denken), Fühlen und Wollen differenziert werden, und erlaubt so eine Bezugnahme auch auf rhythmische Prozesse und auf das Stoffwechselgeschehen, mit dem, wie sich im weiteren zeigt, das Bewegungssystem der Gliedmaßen verknüpft ist. Der leibliche Bezug des Denkens, das hier noch mit dem traditionell üblichen Begriff des Vorstellens bezeichnet wird, ist dann in der Nerventätigkeit zu suchen, das Fühlen stützt sich im Organismus auf den mittleren atmenden Menschen, das Wollen realisiert sich aufgrund und mit Hilfe des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems. Damit ist die Beziehung der Seele zum gesamten leiblichen Organismus charakterisiert.

 

Nun erfolgt aber eine Erweiterung – erst durch sie kann sich die eigentliche Existenzform seelischen Seins zeigen, gewissermaßen in einer Mitte: „In ähnlicher Art, wie man psycho-physiologisch die Beziehungen des in Vorstellen, Fühlen und Wollen verlaufenden Seelenlebens zum Leibesleben verfolgen kann, so kann man anthroposophisch nach Erkenntnis der Beziehungen streben, welche das Seelische des gewöhnlichen Bewusstseins zum Geistesleben hat.“[19] Im Sinne des Grundgedankens der Schrift „Von Seelenrätseln“ differenziert sich hier die Psychologie in eine anthropologische Perspektive auf den Leibbezug und in eine anthroposophische Perspektive auf den Geistbezug der Seele. Letzterer wird, wieder in der Gliederung nach Denken („Vorstellen“), Fühlen und Wollen, durch die Begriffe Imagination, Inspiration und Intuition gefasst. Die Imagination als geistige Beziehung des Denkens kann am ehesten als eine frei Zusammenhangbildung in denkender Eigentätigkeit verstanden werden, die sich (wie beschrieben) vom Vergangenheitsbezug und von der Trennung vom Objekt emanzipiert. Die Inspiration als geistige Beziehung des Fühlens kann vielleicht am ehesten als Sensibilität für denkende und erlebende Erfahrungen gefasst werden, die zwar in geistiger Eigentätigkeit, aber wie von außen kommend auftreten – ähnlich wie im Gefühl ein erlebter Außenbezug innerlich auftritt. Die Intuition schließlich kann insofern als geistige Beziehung des Wollens gelten, als sie sich, als Intention „innen“ erlebt, nach außen hin realisiert. Während die Inspiration auf die Innenwirkung eines Äußeren zielt, kommt mit der Intuition die Außenwirkung eines Inneren in den Blick. Die Imagination begründet sich aus dem selbst gebildeten Zusammenhang, die Inspiration im eigenen Erleben, die Intuition durch ihre „objektive“ Wirkung.

 

Rudolf Steiner selbst macht deutlich, dass seine Darstellungen an dieser Stelle nur skizzenhaft und,  wenig hergeleitet, ergebnishaft möglich sind. Wichtig erscheint daran im Hinblick auf die Entwicklung einer geisteswissenschaftlichen Psychologie sowie im Hinblick auf den Wissenschaftsbezug der Anthroposophie, dass hier eine Anschauung der menschlichen Seele in der Mitte zwischen Leib und Geist angedeutet wird – und dass zugleich die Fokussierung und Konzentrierung seelischer Vorgänge auf Nervenprozesse aufgehoben werden sollen. Man kann dieses psychologische Menschheitsbild insofern als ganzheitlich bezeichnen, als hier die gesamte leibliche Existenz in ihrer seelischen Bedeutung ernstgenommen wird (und umgekehrt). Zudem verhindert die Einbeziehung einer geistigen Dimension seelischen Erlebens determinierende Festlegungen und lässt innerhalb der Psychologie Raum für ein Verständnis der autonomen Individualität. Es eröffnet sich ein Verständnis beispielsweise auch von geistiger Selbstaktivierung, die bis in die Plastizität des leiblichen Organismus hinein wirksam werden kann. Diese seelisch-leibliche Wirksamkeit geistiger Individualität sollte dann etwa sieben Jahre später im Heilpädagogischen Kurs Rudolf Steiners genauer ausgeführt werden.

 

Das Denken als leibschaffende Kraft

In dem erwähnten Notizbuch Rudolf Steiners finden sich unter dem Datum des 8. Oktobers 1918 drei einzeln stehende Eintragungen. Sie lassen rückblickend einen Übergang von der damals intendierten wissenschaftlichen Begründung der Anthroposophie zu den erkenntnistheoretischen und menschenkundlichen Grundlagen des Heilpädagogischen Kurses erkennen. Ihre Gliederung folgt wieder der Differenzierung von Denken („Vorstellen“), Fühlen und Wollen. Für das „Vorstellen“ erscheint der Satz: „Das Erwachen des Seelisch-Geistigen im Leibe: der Leib wird Spiegelungsapparat.“[20] Das Wort „Erwachen“ deutet auf den Beginn eines Bewusstseinsprozesses hin; dieses Bewusstsein des „Seelisch-Geistigen“ wird unter irdischen Bedingungen möglich, indem der menschliche Organismus sich zur leiblichen Grundlage des Bewusstseins ausbildet: in seiner Funktion als „Spiegelungsapparat“ kann durch ihn offenbar etwas in Erscheinung treten. Indirekt ist in der knappen Formulierung auch eine organismusbildende, also leiblich wirksame Kraft des „Geistig-Seelischen“ angedeutet; damit ist eine entsprechende Plastizität des „Leibes“ vorausgesetzt. Unter diesen Voraussetzungen müsste hier zwischen der (zunächst unbewussten) Kraft des „Seelisch-Geistigen“ und dem Inhalt des Bewusstsein unterschieden werden, das der „Spiegelungsapparat“ ermöglicht.

 

Ein zweites Aufwachen betrifft das Fühlen: „Das Erwachen innerhalb des Leibes: Das Übersinnliche des Ich im Sinnlichen des Ich: Gefühl.“[21] Hier erscheint der Ich-Begriff explizit; es wird zwischen dem „Übersinnlichen“ und dem Sinnlichen des „Ich“ differenziert. Die Formulierung „innerhalb des Leibes“ setzt den Prozess voraus, der in der Beschreibung des ersten „Erwachens“ angedeutet wird, die Bildung des Leibes in seiner Spiegelungsfähigkeit. Man könnte nun aus der Beziehung des ersten und des zweiten „Erwachens“ folgern, dass das Denken bzw. Vorstellen als das „Übersinnliche des Ich“ im von ihm erzeugten Organismus mit seinen Sensibilitäts- und Sinnesorganen auf das „Sinnliche“ des Ich trifft; so entsteht das Gefühl. Die Entstehung des Gefühls setzt also die im ersten „Erwachen“ angesprochene Wirksamkeit und die damit verbundene Bildung des Leibes als Bewusstseinsgrundlage voraus. Das Gefühl verbindet demnach in sich das übersinnliche „Seelisch-Geistige“, das im Hintergrund der Organismusbildung wirkt, mit dem erlebenden Bewusstsein, das durch den Leib ermöglicht wird. Im Gefühl verbleibt das „Ich“ noch im Menschen.

 

In einem dritten Erwachen wird die Grenze zur Außenwelt überschritten. „Das Erwachen: das sinnliche (künftiges Übersinnliches) im Übersinnlichen der Außenwelt: Wille – Es ist jeder Willensakt = Bild des Todes.“[22] Zunächst war vom „Erwachen des Seelisch-Geistigen“ die Rede; dann wurde für das Gefühl das „Erwachen innerhalb des Leibes“ benannt; das „Erwachen des Willens“ ist offenbar umfassender, weil es ohne genauere Spezifikation verwendet wird. Der Wille erscheint hier nicht innerhalb des Menschen, sondern als die übersinnliche, also geistige Seite der Außenwelt. In dieser Perspektive kann das Sinnliche als „künftiges Übersinnliches“ bezeichnet werden, insofern sich der Mensch durch den Willen damit verbinden und damit gleichsam das Übersinnliche der sinnlich erscheinenden Welt freilegen kann. Davon ausgehend kann man sich verdeutlichen, inwiefern der Willensakt als „Bild des Todes“ gelten kann: weil der Wille die Beschränkung des zentralen Ich im Leib aufhebt und insofern eine Beziehung zur äußeren Wirklichkeit herstellt. Dieser Vorgang kann insofern als „Tod“ bezeichnet werden, als die Geburt im Aufbau des Leibes als „Spiegelungsapparat“ besteht; dieser wird nun mit der Wendung auf die Außenwelt gleichsam transzendiert. Natürlich ist bei solchen Überlegungen zu beachten, dass hier im Hinblick auf den Willen nicht vom Tod selbst, sondern vom „Bild des Todes“ die Rede ist. Insbesondere die Geburt als Bildeprozess des leiblichen Organismus und der Tod als Beziehung des Menschen zur Außenwelt werden fast sechs Jahre später im Heilpädagogischen Kurs genauer gefasst.

 

Der Heilpädagogische Kurs als Kulmination

Um die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die menschenkundlichen Grundlagen und den therapeutischen Ansatz des Heilpädagogischen Kurses Rudolf Steiners zu verstehen, ist es sinnvoll, einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang herzustellen, den Rudolf Steiner selber nicht benennt. Der Anlass für die Vorträge des „Heilpädagogischen Kurses“ im Sommer 1924 war der Beginn der heilpädagogischen Arbeit, vor allem in zwei Initiativen (Einrichtungen bei Jena und in Arlesheim bei Dornach). Die Perspektive des Kurses ist allerdings so umfassend, dass neben der Heilpädagogik auch die Menschenkunde der Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie und Pädagogik einbezogen sind. Das einheitliche Grundprinzip besteht dabei von Anfang an in der (an keiner Stelle explizit von Steiner benannten) Perspektive der aristotelischen Psychologie „anima forma corporis“. Für den Menschen konkretisiert sich diese Maxime in der anima intellectiva, bzw. dem intellectus, also dem Denken. Der Heilpädagogische Kurs hat im wesentlichen die seelisch-leibliche Formkraft des Denkens zum Gegenstand und stellt sich damit implizit in die angedeutete Gesamtentwicklung wissenschaftlicher Psychologie seit Aristoteles in einem Zeitraum von nahezu 2500 Jahren.[23] In zahlreichen Vorträgen des Jahres und auch des Sommers 1924 geht Rudolf Steiner allerdings wiederholt auf den geistesgeschichtlichen Strom aristotelischer Psychologie ein, insbesondere des 13. Jahrhunderts.[24] Stellt man diesen wissenschafts- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang her, so kann deutlich werden, dass die Erkenntnisgrundlagen des Heilpädagogischen Kurses menschenkundlich nicht isoliert und mit einem Hauptstrom wissenschaftlicher Psychologie verbunden sind.

 

Zudem erscheint es sinnvoll und blicköffnend, die Beziehung des Heilpädagogischen Kurses zu dem bereits besprochenen Leitsatz 59 herzustellen.[25] Hier war von der Lebensseite des Denkens die Rede, die allerdings in der Regel unbewusst bleibt und nicht mit dem Inhalt des Denkens verwechselt werden darf. Der Inhalt des Denkens verbleibt normalerweise im Abbildhaften und besitzt keine Wirklichkeit; die Realität des Denkens besteht demgegenüber darin, dass der Mensch aus dem Denken lebt – indem er beispielsweise den Zusammenhang seiner Biografie jeweils nur denken, nicht aber etwa in  wechselhaften und widerstreitenden  Gefühlen fassen kann. Festzuhalten ist hier zunächst, dass im Denken eine bewusste, nichtwirkliche Inhaltsseite und eine nichtbewusste Lebens- und Wirklichkeitsseite zu unterscheiden sind. Diese Beziehung zwischen der abstrakten Inhalts- und der konstitutiven Lebensseite des Denkens wird im Heilpädagogischen Kurs genauer gefasst, bis zu den Formkräften des Denkens in der Leibbildung verfolgt.

 

Als eine Art Zwischenschritt oder Annäherung an diese Perspektive kann der Leitsatz 11 dienen. Hier spricht Rudolf Steiner davon, dass sich für das Entstehen von Bewusstsein ein Abbau von Lebenskräften vollziehen muss. „Dem Abbau muss aber, wenn die Organisation nicht zerstört werden soll, ein Wiederaufbau folgen. … In der Wahrnehmung dieses Aufbaues liegt das Erleben des Selbstbewusstseins.“[26] Das Selbstbewusstsein des Menschen (und wie im folgenden deutlich wird, auch das Erleben der eigenen Individualität im Ich) bildet sich also aus der Empfindung von Aufbaukräften in der eigenen Lebensorganisation. Diese Aufbaukräfte sind den lebensabbauenden Kräften des reinen Bewusstseinsprozesses entgegengesetzt. Hier zeichnet sich ab, dass Steiners Begriff der Individualität, der wie in der aristotelischen Tradition stark mit der Fähigkeit des Denkens verbunden ist, bis in Prozesse der Leibeskonstitution verfolgt werden kann; zugleich wird im Lebensprozess und in der Leibesfunktion eine Plastizität für die Einwirkung von Individualitätskräften aus dem Denken vorausgesetzt – hier zeigt sich die Verwandtschaft mit dem aristotelischen Prinzip „anima forma corporis“.

 

Dieses Prinzip bestimmt die Perspektive des Heilpädagogischen Kurses implizit von Anfang an. Zunächst bringt Rudolf Steiner zum Ausdruck, dass Gesundheit und Krankheit des „Seelenlebens“ nur in einer Kontinuität betrachtet werden können: Was sich als Symptomatik beim Kranken zeigt, ist „in intimerer Art im sogenannten normalen Seelenleben bemerkbar …  Irgendwo in einer Ecke sitzt bei jedem Menschen im Seelenleben zunächst eine sogenannte Unnormalität“.[27] Steiner umreißt die Intention, den „substantiellen Inhalt der Krankheit“ vom „Symptomenkomplex“ zu unterscheiden und insofern die reine Deskription einer „Psychographie“ zu überwinden. „Man muß hineinkommen ins Substantielle des Krankseins.“[28] Danach erfolgt die entscheidende Wendung, sowohl in den menschenkundlichen Grundlagen, als auch für Diagnose und Therapie; hier zeigt sich gleich zu Beginn des Kurses die innere Verbindung zu dem Prinzip „anima forma corporis“: „Sehen wir jetzt ganz ab von diesem Seelenleben, das ja ohnedies erst nach und nach herauskommt, … dann haben wir hinter der Körperlichkeit ein anderes Geistig-Seelisches, ein Geistig-Seelisches, das heruntersteigt zwischen Konzeption und Geburt aus den geistig-seelischen Welten.“[29]

 

Hier wird eine grundsätzliche und weitreichende Unterscheidung vorgenommen: zwischen dem „Seelenleben“, das auf der gegebenen körperlichen Situation beruht und (zumindest partiell) bewusst ist, und dem „Seelenleben“, das im Hintergrund als konstituierende Kraft im Leibaufbau wirkt und (zunächst) völlig unbewusst bleibt. „Das eigentlich dauernde Seelenleben steigt herunter, das geht durch die wiederholten Erdenleben und sitzt in der Organisation des Leibes darinnen.“[30] Anschließend wird dieser Wirkungszusammenhang auf den menschlichen Kopf und damit direkt auch auf das Denken bezogen: „Wir müssen also unterscheiden zwischen den zwei Denkfunktionen, derjenigen …, die das Gehirn aufbaut – die ist das Bleibende –, und der Denkfunktion, die gar nichts Wirkliches ist, die nur gespiegelt ist und fortwährend ausgelöscht wird beim  Einschlafen und vergeht, wenn man nicht nachdenkt.“[31] Dieses Prinzip, das zunächst für den Kopf beschrieben wurde, wird dann auch auf die anderen Bereiche des Körpers übertragen. So heißt es ganz allgemein im zweiten Vortrag über den Ätherleib als Träger von lebendigen Prozessen: „Er ist leer von den formenden Gedanken an diesen Stellen“[32] (an denen Krankheitsprobleme auftreten).

 

Auch für die Entwicklung des Organismus kommt es zu einer Konkretisierung: „Wir müssen … unterscheiden gerade beim Kinde zwischen dem Erbkörper und dem, was als Folge des Erbkörpers auftritt in dem individuellen Körper. Der bildet sich nach und nach, der individuelle Körper, den man erst den wahren Menschenpersönlichkeitskörper nennen kann.“[33] Der „Erbkörper“ wird aus den leiblichen Entwicklungsströmen der Eltern übernommen, und dann (etwa zwischen dem 7. und dem 14. Lebensjahr) von den Ich-Kräften des Kindes individualisiert. Krankheitsursachen können in dieser Zeit entstehen, wenn das Kind nicht die Kraft aufbringen kann, die „Vererbungsähnlichkeit“ zu überwinden. Steiner sieht „im Alter zwischen dem 7. und 14. Lebensjahre das stärkste Arbeiten, dessen die Individualität fähig ist“; der Mensch ergreift sich gewissermaßen körperlich selbst, indem „er sich herausarbeitet aus den Vererbungskräften“.[34] Diagnostisch wie therapeutisch gilt es, für diese Entwicklungszusammenhänge eine Sensibilität auszubilden: „… das muss man sozusagen im geistigen Griffe haben und wissen, wie stark in dem einen oder andern Falle die Individualität wirkt.“[35] An dieser lapidaren Formulierung wird deutlich, wie die grundlegenden menschenkundlichen Aussagen des Heilpädagogischen Kurses verstanden werden wollen: Es wird ein begrifflicher (ideenrealistischer) Zusammenhang entwickelt; aus der sich vertiefenden Beschäftigung mit diesem Zusammenhang kann eine Sensibilität für individuelle Krankheitsdispositionen entstehen.

 

Die Perspektive des „Heilpädagogischen Kurses“ ist nur als sehr großer Entwicklungszusammenhang nachvollziehbar; der ganze Umfang anthroposophischer Menschenkunde muss mit in den Blick genommen werden – therapeutische oder sonstige pragmatische Verkürzungen sind nicht möglich. Insofern stellt die Beschäftigung mit diesem Ansatz auch immer eine Zumutung und Herausforderung dar: „Man muss nämlich, bevor man auf die Erde heruntersteigt, den menschlichen Organismus ganz genau kennen, sonst kann man nicht recht hineinsteigen in den ersten sieben Jahren und ihn nicht recht umwandeln. Und was man also erwirbt an  Wissen in Bezug auf die innere Organisation zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, das ist etwas ganz Unermessliches … .“[36]

 

Dann erfolgt eine überraschende Blickwendung auf die Außenwelt, auf die Lebens- und Naturumgebung des Menschen. In einer nur schwer verständlichen Formulierung wird angedeutet, dass das immense vorgeburtliche Wissen um die eigene Leibesorganisation während des Lebens „untertaucht in den Körper und daher vergessen wird, weil es untertaucht“.[37] Die folgende Formulierung „das wendet sich nicht nach der Außenwelt“ ist in diesem Zusammenhang nur so zu verstehen, dass dieses prinzipielle Wissen gleichsam im Körper verschlossen bleibt und nicht bewusst auf den Sinnesprozess bezogen wird. Die Vorträge des Heilpädagogischen Kurses sind frei gehalten, sie zeigen im Aufbau manche spontane, zuweilen sogar abrupte Wendung; an vielen Stellen hätten sich auch bereits die damaligen Zuhörer Erläuterungen erwünscht. An der jetzt in Rede stehende Stelle gegen Ende des ersten Vortrags deutet Rudolf Steiner einen komplexen Außenbezug der Individualität an: „Sie gehen durch die Welt. Jetzt glauben Sie, wenn Sie so durch die Welt gehen, zum Beispiel einen Tag, jetzt meinen Sie, das ist etwas Geringes; es ist auch etwas Geringes für das gewöhnliche Bewusstsein, es ist aber nichts Geringes für dasjenige, was im gewöhnlichen Bewusstsein das Unterbewusstsein bildet. Denn wenn Sie nur einen Tag durch die Welt gehen und sie genauer anschauen, so ist das schon die Vorbedingung für die Erkenntnis des Inneren des Menschen. Außenwelt im Erdenleben ist geistige Innenwelt im außerirdischen Leben.“[38]

 

Hier wird deutlich, dass sich der Begriff des Unbewussten im „Heilpädagogischen Kurs“ auf die im Hintergrund leibkonstituierende und leibfunktionelle Wirksamkeit des Denkens bezieht, auf die Kraft des Denkens im Unterschied zum Denkinhalt. Der noch allgemeine Übergang vom Denken zum Leben und damit zu der Kraft- bzw. Wirklichkeitsschicht des Denkens in Leitsatz 59 wird nun also konkreter gefasst. Dabei kommt zum Ausdruck, dass neben der Einbeziehung der vorgeburtlichen Existenz mit ihrer Erkenntniskompetenz für den Aufbau des Organismus auch das nachtodliche Sein einbezogen werden muss, um die biografische Gesamtentwicklung der Individualität verstehen zu können. Die irdische Außenerfahrung von der Welt, die ich erlebt habe, wird nach dem Tod zu einer Innenerfahrung, zu einem Selbsterleben. Diesem Selbsterleben steht dann ein Umgebungsbewusstsein gegenüber, das sich aus den emotionalen, mentalen und ethischen Innenorientierungen und der entsprechenden Selbsterfahrung der irdischen Biografie ergibt. Steiners Formulierung „Außenwelt im Erdenleben ist geistige Innenwelt im außerirdischen Leben“ ist also zu ergänzen durch die Aussage „Innenwelt im Erdenleben ist geistige Außenwelt im außerirdischen Leben“.

 

Natur- und Welterfahrungen wirken über die karmische Entwicklung von Inkarnationen als Form- und Gestaltungskraft im eigenen Leibaufbau. In wissenschaftshistorischer Perspektive und im Hinblick auf menschenkundliche und erkenntnistheoretische Grundlagen einer solch umfassenden Psychologie kann heute festgestellt werden, dass Rudolf Steiner in seinem Heilpädagogischen Kurs durch die Einbeziehung der Umgebung und der Entwicklung durch Inkarnationen das aristotelische Prinzip „anima forma corporis“ um den Umgebungsbezug und die Inkarnationsanschauung erweitert hat – ohne allerdings (wie bereits erwähnt) auf die aristotelische Psychologie explizit zu rekurrieren. Dennoch war es offenbar möglich, aus diesem Zusammenhang heraus eine begriffsrealistische Menschenkunde zu begründen, die bis in die therapeutischen Belange von Heilpädagogik, Pädagogik, Psychotherapie und Psychiatrie herein wirksam werden sollte – und umfassende menschenkundliche, erkenntnistheoretische wie wissenschaftshistorische Neuausrichtungen anzuregen.

[1] Rudolf Steiner: Leitsatz 2. In: Ders.: Anthroposophische Leitsätze (GA 26). 8. Aufl. Dornach 1982, S. 14. Die genaue Formulierung lautet an dieser Stelle: „Anthroposophie vermittelt Erkenntnisse, die auf geistige Art gewonnen werden. Sie tut dies aber nur deswegen, weil das tägliche Leben und die auf Sinneswahrnehmung und Verstandestätigkeit gegründete Wissenschaft an eine Grenze des Lebensweges führen, an der das seelische Menschendasein ersterben müsste, wenn es diese Grenze nicht überschreiten könnte.“

[2] Ders.: Leitsatz 59. In: Ders.: Anthroposophische Leitsätze (wie Anm. 1), S. 41.

[3]Lateinischer Text: Albertus Magnus: De unitate intellectus. S.13. Eine kommentierte lateinisch-deutsche Ausgabe dieser Schrift erscheint im Frühjahr 2022 im Verlag Frommann Holzboog (herausgegeben von Henryk Anzulewicz und Wolf-Ulrich Klünker).

[4] Rudolf Steiner: Heilpädagogischer Kurs (GA 317). 6. Aufl. Dornach 1979. Für das hier skizzierte Grundprinzip sind insbesondere die ersten drei Vorträge aufschlussreich; näheres dazu am Ende der vorliegenden Abhandlung.

[5] Rudolf Steiner: Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie (GA 73). Dornach 1973.

[6] Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Nr. 45. Dornach, Ostern 1974, S. 15.

[7] A.a.O.

[8] A.a.O.

[9] Dieser Ansatz zum Verständnis des Gefühls kann hier nur kurz skizziert werden; eine ausführlichere Darstellung mit weiteren Konsequenzen und Perspektiven findet sich in: Wolf-Ulrich Klünker: Selbsterkenntnis – Selbstentwicklung. Zur psychotherapeutischen Dimension der Anthroposophie. 2. Aufl. Stuttgart 2003, S. 100 ff.

[10] Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Nr. 45 (wie Anm. 6), S. 17.

[11] Rudolf Steiner: Votum zur Psychiatrie (26. März 1920). In: Ders.: Psychologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft (GA 314). Dornach 1965, S. 263.

[12] A.a.o., S. 264.

[13] A.a.o., S. 270.

[14] Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Nr. 45 (wie Anm. 6), S. 13.

[15] A.a.o., S. 14.

[16] Rudolf Steiner: Von Seelenrätseln (GA 21). 5. Aufl. Dornach 1983, S. 150.

[17] Ausführlicher dazu: Wolf-Ulrich Klünker: Dreigliederung als Psychologie des Zwischenraums. Zur wissenschaftlichen Bedeutung der Schrift „Von Seelenrätseln“. In: Anthroposophie, Johanni 2019, Nr. 288, S. 106 – 114.

[18] Rudolf Steiner: Von Seelenrätseln (wie Anm. 16), S. 158.

[19] A.a.o., S.159 f.

[20] Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe (wie Anm. 6), S. 15.

[21] A.a.O.

[22] A.a.O.

[23] Näheres zu dieser wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung: Wolf-Ulrich Klünker: Wissenschaft des Ich. Erkenntnisgrundlagen und Geschichte einer neuen Psychologie. In: Ders. u. a.: Psychologie des Ich. Anthroposophie – Psychotherapie. 2. Aufl. Stuttgart 2021.

[24] Vgl. dazu vor allem die Bände der Vortragsreihe „Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge“ (GA 235 – 240).

[25] Vgl. o. S. …

[26] Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze (wie Anm. 1), S. 19 f.

[27] Rudolf Steiner: Heilpädagogischer Kurs (wie Anm. 4), Vortrag vom 25.6.1924, S. 11.

[28] A.a.O., S. 12.

[29] A.a.O., S. 13.

[30] A.a.O., S. 14.

[31] A.a.O., S. 15.

[32] A.a.O., Vortrag vom 26.6.1924, S. 33.

[33] A.a.O., Vortrag vom 25.6.1924, S. 17.

[34] A.a.O.

[35] A.a.O.

[36] A.a.O., S. 20.

[37] A.a.O.

[38] A.a.O., S. 21.