30. Mai 2017

Wissenschaft des Gefühls


Forschungsperspektiven einer Ich-Psychologie

Wolf-Ulrich Klünker

PDF Version

Jede Wissenschaft vom Menschen sieht sich mit einem zweifachen Anspruch konfrontiert: einerseits muss sie den Erkenntnisgrundlagen wissenschaftlichen Denkens entsprechen, andererseits sollte sie in der Lage sein, nicht nur auf Erkenntnisfragen, sondern auch auf existenziell tiefer gelagerte Lebensfragen zu antworten. Wissenschaftlichkeit dürfte also die existenzielle Dimension nicht ausschließen; persönliche Betroffenheit andererseits nicht jenseits wissenschaftlicher Selbstverantwortung liegen. So verbinden sich in den Wissenschaften vom Menschen, also zum Beispiel in der Psychologie und der Medizin (hier insbesondere, weil in ihnen stets auch therapeutische Bedürfnisse angesprochen sind) Erkenntnis und Leben, Wissenschaft und Selbstgefühl, und, sofern es sich um geisteswissenschaftliche Grundlagen handelt, Spiritualität und Existentialität.

Seele als leibliche Kraft

In einer gewissen Perspektive kann man den Beginn einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Menschen im vierten vorchristlichen Jahrhundert datieren, und zwar im Werk des Aristoteles. Insbesondere seine drei Bücher „Über die Seele“ (De anima) markieren den Beginn einer wissenschaftlichen Anthropologie und Psychologie, aber auch eines Leibverständnisses, in dem Wissenschaftlichkeit und Lebensbezogenheit nicht zu trennen sind. Die menschliche
Seele wird in ihrer leiblichen Dimension (anima vegitativa), in ihrer seelischen Wirklichkeit (anima sensitiva) und in ihrem ursächlichen Geistbezug (anima intellectiva) untersucht. Die wissenschaftliche Methode des Aristoteles kann als begriffsrealistisch charakterisiert werden: als ein Hervorbringen und Verbinden von Begriffen, die nicht allein eine gegebene Wirklichkeit des Menschen beschreiben. Vielmehr ergeben sich die Begriffe und ihre
Zusammenhänge aus einer Partizipation am Lebens-, Seelen- und Geistprozess menschlicher Existenz. Die existenzielle Teilhabe erlebt die Begriffe nicht allein als Beschreibungen, sondern zugleich auch als Ursachenrealität menschlicher Existenz.

Diese Wissenschaft ist also per se existenziell – durch Teilhabe am Lebensprozess. Und die bewusste Partizipation gibt den Lebensprozess in seiner leiblichen, seelischen und geistigen Dimension nicht nur wieder, sondern ermöglicht bzw. begründet ihn zugleich auch. Es ist offenkundig, dass ein solches Verständnis der Wissenschaft im 21. Jahrhundert (aber auch schon im 19. und 20. Jahrhundert) kaum noch nachvollziehbar erscheinen kann – aber es steht an der Wiege der Wissenschaft.

Als Erkenntnisgrundlage dieser lebens- und leibeingebundenen Psychologie kann die Aussage „Anima forma corporis “ gelten. Die Seele ist Form des Leibes, nicht als äußeres, sondern als inneres, funktionelles Formprinzip. Was hier gemeint ist, kann man sich, gerade im Hinblick auf eine moderne Psychologie des Ich, bei Betrachtung der menschlichen Physiognomie verdeutlichen. Aus dem Gesicht des Menschen spricht seine Individualität, die diese „Form“ als Ausdruck ihrer selbst gestaltet hat. Dieses Formprinzip wäre nun auf den ganzen Leib und auf all seine Organe zu beziehen. In der aristotelischen Psychologie ist veranlagt, dass das Denken als leibschaffende Kraft zu gelten hat; das Denken offenbar nicht in seinen Inhalten, sondern in der ihm zugrundeliegenden individuellen Kraft.

Dieser Ausgangspunkt wird von Rudolf Steiner im Juni 1924 in seinem „Heilpädagogischen Kurs“ wieder aufgenommen. Die Vortragsreihe beginnt mit der Aussage, dass das Ich vorgeburtlich aus den eigenen Denkkräften heraus leibschaffend wirkt. Rudolf Steiner vollzieht an dieser Stelle die Anknüpfung an die aristotelische Psychologie nicht explizit; aber bei entsprechend weitreichender Perspektive wird deutlich, dass hier die aristotelische Anthropologie, die, auch in ihren mittelalterlichen und neuzeitlichen Ausprägungen, die nachtodliche Existenz der menschlichen Seele in ihren Untersuchungen mitbetrachtete, um den Gesichtspunkt der vorgeburtlichen Existenz erweitert wird. Damit knüpft Rudolf Steiner in den Erkenntnisgrundlagen der anthroposophischen Menschenkunde an eine zweieinhalb Jahrtausende alte wissenschaftliche Tradition an. Die implizite Bezugnahme erfolgt allerdings in einer Situation des 20. Jahrhunderts, in der das wissenschaftliche Denken ganz andere Ausgangspunkte ausgebildet hatte. Der Psychologie und Anthropologie der Neuzeit war es immer schwerer gefallen, das Erkenntnisprinzip anima forma corporis zu verstehen; gerade das 20. und inzwischen auch das 21. Jahrhundert haben eine Grundhaltung der Erkenntnis hervorgebracht, die dieses Prinzip geradezu umkehrt: aus anima forma corporis ist corpus forma animae geworden – leibliche Prozesse gelten als Ursachen und Determinanten seelisch-geistigen Geschehens.

Heutige Anknüpfung an die Menschenkunde Rudolf Steiners steht vor der Aufgabe, diese Spannung zu ertragen und im wissenschaftlichen Diskurs fruchtbar zu gestalten. Selbstverständlich sind die Ergebnisse beispielsweise genetischer Forschung zu berücksichtigen, und es ist anzuerkennen, in welchem Umfang sich die leibliche Situation des Menschen seelisch ausprägt. Alle Erkenntnisse in Anthropologie, Medizin und Psychologie, aber auch in Biologie und alle andere Naturwissenschaft sind zu einzubeziehen, in denen sich zeigt, inwieweit menschlich-leibliches Sein das Bewusstsein und die Seelenexistenz bestimmt. Auf der anderen Seite ist aber geltend zu machen und wissenschaftlich zu begründen, dass beispielsweise das Ausmaß einer genetischen Bestimmung in der biografischen, seelischen und leiblichen Entwicklung eines Menschen davon abhängt, wie er sich selbst eigenaktiv in das Leben und seine Bewusstseinsentwicklung hineinstellen kann. Die wissenschaftlichen Grundlagen einer anthroposophischen Psychologie sind nicht nur einzelne spiritualisierende Schritte, sondern es geht um eine kategoriale Veränderung der Betrachtungsart unter Berücksichtigung aller wissenschaftlichen Ergebnisse der neueren Zeit. Die Bezugnahme auf die wissenschaftsgeschichtliche Gesamtentwicklung der Psychologie
kann eine Perspektive eröffnen, in der die schaffende Formkraft der seelisch-geistigen Individualität des Menschen wissenschaftlich wieder zur Geltung gebracht werden kann.

(Auf diese Forschungsaufgaben kann hier nur kurz hingewiesen werden; erste Schritte auf dem Weg zu einer Psychologie und Psychotherapie, die die schaffende Kraft der Individualität bis in die Organismusbildung hinein berücksichtigt, sind in folgender Publikation angestrebt worden: Wolf-Ulrich Klünker, Johannes Reiner, Maria Tolksdorf, Roland Wiese: Psychologie des Ich. Anthroposophie, Psychotherapie. Stuttgart 2016.)

Das Gefühl im Zentrum der Psychologie

Die seelische Existenz, die als Wirkung und Reflex des körperlichen Lebens auftritt, bezeichnet Rudolf Steiner am Anfang des „Heilpädagogischen Kurses“ als nur „symptomatisches“ Seelenleben. Das „eigentliche“ Seelenleben dagegen wirkt leibschaffend: vor der Geburt und nach der Geburt im Hintergrund der leiblichen Existenz bildet es die Entwicklungsvoraussetzungen des Organismus. Das Ich als geistige Formkraft schafft sich eine Körperlichkeit, mit deren Hilfe es sich seiner selbst im Erdenleben bewusst werden kann. Das Ich wirkt also im Aufbau und im Erhalten des Organismus als Seelenkraft – in der aristotelischen Tradition der Psychologie wird stets diejenige geistige Tätigkeit als Seele bezeichnet, die in einer Beziehung zum Leib existiert. So können beispielsweise auch
hierarchische geistige Wesen als Seelen betrachtet werden, sofern sie in einer Beziehung zu Planeten oder anderen Weltenkörpern stehen, die sie gleichsam „beseelen“, etwa indem sie durch die Planetenbewegung bestimmte kosmische Aufgaben vollziehen. Damit zeigt sich das Ich bzw. die menschliche Seele für eine Psychologie, die aus dieser Perspektive blickt, in ihrer Aktivität und nicht nur in einer Passivität im Hinblick auf leibliche Wirklichkeit. Die Ich-Aktivität ist im Hinblick auf den Organismus leibschaffend und im Verhältnis der Organe funktionstragend, also entscheidend für Gesundheits- und Krankheitsentwicklungen. Die Perspektive des „eigentlichen Seelenlebens“ in seiner Aktivität hat auch weitreichende Auswirkungen auf ein Verständnis des Gefühls und der Empfindung. Sie ermöglicht nämlich, die Gefühlsbildung psychologisch in den Blick zu nehmen und damit eine Betrachtungsart zu
transzendieren, die menschliche Gefühle einfach nur als (passiv) gegeben voraussetzen muss. Die Ausbildung von Gefühlen wäre dann als Ausdruck der geistigen Aktivität des Ich zu verstehen, das sich aus dieser geistigen Bewegung heraus mit dem Leib verbindet. Georg Friedrich Wilhelm Hegel hatte im 19. Jahrhundert noch eine Empfindung für die Aktivität des Ich bei der Entstehung von Gefühlen; in seiner „Enzyklopädie“ spricht er davon, dass die Individualität die einzelnen Gefühle (und damit auch das Selbstgefühl) in sich „setzt“. ( G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. III, § 407. )So können Leibprozess und Empfindung für Psychologie und Therapie als Wirkungen seelisch-geistiger Aktivität in den Blick genommen werden. Damit eröffnet sich ein weites Forschungsfeld.

Rudolf Steiner hat am 10. Oktober 1918 in einem Vortrag an der Technischen Universität Zürich die Erkenntnis des Gefühls als vorrangige Forschungsaufgabe einer zukünftigen Psychologie mit eindringlichen Worten postuliert. (Ich möchte die (mehrfache!!!) Lektüre dieser Ausführungen Rudolf Steiners dringend empfehlen.)  An dem zentralen Forschungsgebiet des Gefühlsverständnisses will Steiner die Bedeutung der Anthroposophie für eine neue Psychologie (und implizit auch für all ihre therapeutischen Konsequenzen) beschreiben. Die Zielrichtung tritt bereits in seinen vorbereitenden Notizbucheintragungen klar zutage. Dort heißt es: „Die alte Seelenlehre geht ihrem Sterben entgegen; ihre Begriffe: Vorstellung, Gefühl, Wille, Aufmerksamkeit etc. sind nur noch Worte. Die Physiologie erhebt den Machtanspruch, über die seelischen Erlebnisse Aufschluss zu geben. … Die Seelenlehre ist Gelehrtenangelegenheit geworden. Doch hat sie einen Inhalt, der jeden Menschen angeht. Eine neue Seelenlehre wird so wissenschaftlich sein, als die alte es wollte; sie wird zugleich eine Sprache finden, welche von allen verstanden wird, zu denen die Fragen des Daseins sprechen.“ ( Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. 45 (Ostern 1974) S. 15.)

Etwas später wird in dem Notizbuch deutlich, dass eine solche neue Psychologie zu kategorial neuen Begriffen gelangen muss: „Die neue Seelenanschauung hat andere Ausgangspunkte als die alte. Sie geht von einer Erkenntnis aus, die ein Selbstgeständnis wird, dass das Erleben des Seelischen aufhört, wenn man sich ihm nähert mit den Mitteln des gewöhnlichen Erkennens. Das Vorstellen wird in seiner Unwirklichkeit, das Fühlen in seiner Verworrenheit, das Wollen in seiner Unbegreiflichkeit erkannt.“ ( A.a.O.; S. 16.) „Erkenntnis“ und „Selbstgeständnis“ gehören in der neuen Psychologie zusammen: wissenschaftliche Haltung und existenzieller Selbstbezug können nicht mehr getrennt werden. Aus einer solchen inneren Erkenntnisverdichtung geht
hervor, dass sich viele herkömmliche Begriffe als illusionär erweisen müssen. Das wissenschaftliche „Selbstgeständnis“ wird zu einem existenziellen Grunderleben: mein Denken ist unwirklich, meine Gefühle sind verworren, mein Wollen ist mir unerklärbar. Im gesprochenen Vortrag wird Rudolf Steiner dann hinzufügen, dass eine Psychologie, die über das Gefühl spricht, aber diese Erkenntnisvoraussetzung nicht beachtet, in ihrer Gefühlsdeutung die Empfindung nicht erhellen, sondern nur noch weiter chaotisieren kann. Hier zeichnet sich ab, dass eine Psychologie und Psychotherapie, die gegebene Gefühle nur deuten, ohne die Schicht der Gefühlsbildung zu erreichen, dem Ich im Gefühl nicht gerecht werden können. Die Hilfe in einer schwierigen Gefühlssituation wird dann weniger in einem Verständnis der Genese der Gefühlslage als eher in der Frage nach den Möglichkeiten einer
aktiv positiven Gefühlsbildung liegen.

So gehen die vorbereitenden Aufzeichnungen zum zentralen Thema des späteren Vortrags über, zur Gefühlsbildung. „Dann kommt man zu einem Wahrnehmen des Gefühles, bei dem man sagen kann: man unterscheidet zweierlei – Wahrnehmendes und Wahrgenommenes. Auf dieser Unterscheidung beruht die Gesundheit des Sinneslebens. Solche Gesundheit muss die Beobachtung des Fühlens haben. Das, was noch nicht, erlebt ist, was im Menschen steckt und erst zukünftig sich auslebt, das nimmt im Fühlen das vergangene Leben wahr. … Man studiere, welche Wirkungen auf das Gefühlsleben ein baldiger Tod gehabt hat.“( A.a.O.) Eine zukünftige psychologische Erkenntnis des Gefühls muss „Wahrnehmendes“ und „Wahrgenommenes“ im Gefühl differenzieren. Im Vortrag wird Rudolf Steiner dann von Subjekt und Objekt des Gefühls sprechen. Im Sinneserleben sind Subjekt und Objekt immer
deutlich differenziert: Ich nehme die Welt wahr. Für das Gefühl deutet sich schon hier im Notizbuch ähnliches an: mein zukünftiges Leben nimmt im Gefühl mein vergangenes Leben wahr! Genau in diesem Sinne kann das Gefühl immer nur als die Gegenwart meiner Existenz gelten; indem ich jetzt, in diesem Lebensmoment, als zukünftiger Menschen mich selbst in meiner vergangenen Biografie wahrnehme, komme ich erst in meiner Gegenwart an.
Damit gewinnt die Psychologie eine neue menschenkundliche Grundlage und mit dieser auch ein sehr konkretes Forschungsinstrumentarium. Selbstverständlich umfasst ihr Gebiet neben dem Gefühl auch den Willen und das Denken; diese Aspekte werden sowohl in dem Vortrag vom 10. Oktober 1918 als auch in den Notizbucheintragungen Rudolf Steiners behandelt, können hier aber nicht im einzelnen betrachtet werden. Als Fazit ist schließlich im Notizbuch zu lesen: „Man wird in der Zukunft eine Seelenlehre haben, wenn man diesen Weg einschlagen will: eine Seelenlehre für jeden Menschen, nicht bloß für die Gelehrtenstube – oder man wird keine Seelenlehre haben. Die Seelenlehre, welche sich in die Gelehrtenstube verkroch, wurde mit dem Verlust des für den Menschen bedeutungsvollsten Wissenswerten bestraft; die Seelenlehre, welche sich nicht scheuen wird, das Seelisch-Geistige zu suchen, wird Lebenskraft, Lebenszuversicht, Lebenssicherheit für jeden Menschen geben.“(A.a.O., S. 17.)
Die zukünftige Wissenschaft von der Seele, hier noch „Seelenlehre“, seltener „Psychologie“ genannt, wird zugleich existenziell sein: eine Wissenschaft, die „jeden Menschen“ anspricht und mit sich selbst in Entwicklungsbeziehung bringt. Die alte Psychologie hatte das „Bedeutungsvollste“ verloren, den sich in der geistigen Selbstaktivierung entwickelnden Menschen, der nicht nur seine seelische, sondern auch die leibliche Existenz mitbestimmt. So
kann durch eine neue Psychologie für jeden Menschen Lebensperspektive entstehen. Mit anderen Worten: nicht erst die therapeutische Umsetzungen einer psychologischen Grundlagenwissenschaft wirken heilend, sondern bereits ihre begrifflichen Grundlagen und ihre „theoretische“ Entwicklung.

Genauere Ausführung

Überaus interessant ist nun, welche Ausgestaltung diese vorbereitenden, eher stichwortartigen Bemerkungen im Vortrag selbst erfahren.(Rudolf Steiner: Vortrag vom 10. Oktober 1918 (GA 73). Dornach 1973, S. 253 286.) Bereits der Titel des Vortrags, in einer Reihe zum Verhältnis von Anthroposophie und akademischen Wissenschaften gehalten, umspannt wieder das gesamte Spektrum von wissenschaftlicher Grundlagenforschung bis hin zu existenziellen Lebensorientierungen: „Der geisteswissenschaftliche Aufbau der Seelenforschung. Von deren Grundlagen bis zu den lebenswichtigen Grenzfragen des Menschendaseins“. Das „Wahrnehmende“ im Gefühl wird nun, wie bereits erwähnt, als „Subjekt“ des Gefühls bezeichnet, das „Wahrgenommene“ als „Objekt“. Ausführlicher geht Rudolf Steiner auf die biografische Situation kurz vor dem Tod eines Menschen ein. In ihr fallen Subjekt- und Objektbereich des Menschen zunehmend zusammen, so dass der Tod selbst als Identität von Subjekt und Objekt im Gefühl bezeichnet werden könnte – die Subjektseite, die Zukunft der eigenen irdischen Existenz, die ihre Vergangenheit im Lebensmoment wahrnimmt, ist zu Ende gegangen; übrig bleibt lediglich noch die Objektseite, das Gefühlte. In dieser und in mancher anderen Hinsicht erweist sich das Gefühl als Ausdruck irdischer Entwicklung – in der nachtodlichen Existenz kann von einer Gefühlsentwicklung in dem hier angedeuteten Sinne zunächst nicht die Rede sein.

Heute, nach fast 100 Jahren, rückt die Darstellung Rudolf Steiners in eine eminent historische Perspektive. In dieser ist es, auch rückblickend auf die wissenschaftliche Entwicklung im 20. und 21. Jahrhundert, die für Rudolf Steiner noch Zukunft war, mehr als interessant, seine Beobachtung bzw. Prognose zu lesen. Er spricht zunächst von der damals durchaus noch bekannten philosophischen Psychologie und bemerkt, „dass diese philosophische Seelenkunde von den Lehrstühlen der Universitäten allmählich verschwindet und eigentlich das Bestreben immer mehr und mehr sich geltend macht, an die Stelle, wo früher Philosophen gesessen haben, naturwissenschaftlich denkende Leute aus der Physiologie oder aus sonstiger Naturwissenschaft hervorgehende Leute hinzusetzen. Man hofft in vielen Kreisen, dass man dasjenige, was früher für die Rätsel des menschlichen Seelenlebens eine besondere
Psychologie, eine besonderes Seelenkunde erforschen wollte, durch die Physiologie des Gehirnes, durch die Physiologie des Nervenbaues und dergleichen für den Menschen beantworten könne.“(A.a.O., S. 254.) In dieser Entwicklung werden die Begriffe der Psychologie immer abstrakter, zur „bloßen Worthülse“ (A.a.O., S. 255)., die „gespenstisch in der Seelenwissenschaft fortspukt“.(A.a.O.) Psychologische Theorie und „wirkliches“ Leben treten zunehmend auseinander.

Als zentrale Lebensfrage, die nun auch wissenschaftlich gefasst werden sollte, sieht Rudolf Steiner die nachtodliche Existenz der Seele, also ihre Fortdauer nach der Trennung von dem Leib. Durch wissenschaftliche Erschließung des Fortlebens der Seele könnte die Psychologie wieder zur „Seelennahrung“ werden, zu einer Antwort auf diejenigen „Grenzfragen“, die dem „brennenden Interessen des menschlichen Seelenlebens entsprechen“. (A.a.O., S. 257.) Um die „Unwirklichkeit der Seele“ im Denken, die „Verworrenheit des Lebens im Gefühl“ und die „Unbegreiflichkeit der Willensaktion“ zu überwinden, (A.a.O., S 264.) muss zunächst das Denken auf eine Grenze der Existenz bezogen werden, auf die Grenze des Aufwachens aus dem Schlaf und schließlich auf die Grenze des Aufwachens in das bewusste Erdenleben durch die Geburt. In ähnlicher Weise kann der Wille begriffen werden, wenn die psychologische Erkenntnis ausgedehnt wird auf die Grenzen des Einschlafens und des Todes. Schließlich kommt Rudolf Steiner auf eine realitätsgerechte Erkenntnis des Gefühls zu sprechen, die zugleich (im Sinne des oben genannten therapeutischen Prinzips, in dem bereits die Begriffsbildung heilend wirkt) das Gefühl aus seiner Verworrenheit herausführt. Das Gefühl wird zugänglich, wenn das Denken von dem Aufwachen zum Leben aus der vorgeburtlichen Existenz her begriffen werden kann und der Wille als Ausdruck des Übergangs in eine nachirdische Daseinsform verstanden wird. Ein Begriff der Geburt führt zu einem Verständnis des Denkens (und umgekehrt!), ein Begriff des Todes führt zu einem Verständnis des Willens (und wiederum auch umgekehrt!). Von dieser Grundlage in dem „wissenschaftstheoretischen“ Vortrag von 1918 her ist auch die Darstellung im Heilpädagogischen Kurs im Sommer 1924 zu sehen, wenn hier, fast sechs Jahre später, das Denken als diejenige leibschaffende Kraft vor der Geburt verstanden wird, die den Übergang in die leibliche Existenz begründet und ermöglicht.

Zumutung für das wissenschaftliche Denken

Die wissenschaftliche Zumutung, die Rudolf Steiner für die Psychologie entwickelt, ist auch für eine Erkenntnis des Gefühls nicht geringer. Denn das Gefühl als die eigentliche biografische Kraft und damit als Prägung und zugleich Wirkung der Biografie zu begreifen, ist wissenschaftlich ähnlich ambitioniert wie das Postulat, Geburt und Tod als Übergangsform menschlicher Existenz in die Psychologie aufzunehmen. Die Darstellung beginnt im Vortrag vom 10. Oktober 1918 wiederum mit einem Affront: das „Gefühlsleben“ bestehe „für die gebräuchliche Seelenkunde“ nur aus „einer Versammlung von Worten“. (A.a.O., S. 269.) Um diese  Abstraktion des Gefühls zu überwinden, müsse die Psychologie erkennen, „wer der eigentlich Fühlende ist, und was eigentlich im Gefühlsleben wahrzunehmen ist“. ( A.a.O., S. 270f.) Dann folgen die definitionsähnlichen Sätze: „Wenn wir jetzt in diesem Augenblick fühlen, so fühlt in uns derjenige Mensch, den wir jetzt erst anfangen zu leben, und morgen und übermorgen, im nächsten Jahre weiterleben werden bis zu unserem Tode. Im Momente, wo wir fühlen, ist das Subjekt, das sonst unbekannte Subjekt, unser Leben, das schon in uns steckt, zwischen dem Augenblicke, wo wir fühlen, und dem Tod. Und dasjenige, was wahrgenommen wird, das ist das Leben, das wir durchlebt haben von der Geburt bis zu dem Momente, wo wir fühlen – eine ganz große Perspektive der Forschung, dass das Gefühlsleben in diesem Ausgangspunkte liegt.“(A.a.O., S. 271. )

Der Lebensaugenblick, das Jetzt entsteht, indem das Ich der Erdenbiografie sich aus seiner eigenen Zukunft heraus in dieser Biografie als Vergangenheitsmenschen wahrnimmt. Überaus wichtig (auch erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch) ist, dass dieser Gefühlsbegriff nicht allein Gefühle deutet oder versteht, sondern selbst gefühlsschaffend ist, sofern man sich erlebend auf ihn einlässt. Die Wissenschaft verlässt damit das Gebiet der Beschreibung und Deutung von Vorhandenem und wird selbst realitätsbildend in ihrem Untersuchungsgegenstand. Diese Folgerung spricht Rudolf Steiner hier nicht explizit aus, aber sie ist in der Darstellung veranlagt.

Eine weitere Steigerung der Zumutung an die Wissenschaft findet statt, wenn anschließend angedeutet wird, dass eigentlich keine Alternative zu einer solchen Forschungsart bestehe. Wenn die wissenschaftlichen Konsequenzen gezogen würden, „dann bleibt das Gefühlsleben, das Wesen des Gefühles, nicht jene Worthülse, die sie in der gewöhnlichen wissenschaftlichen Psychologie heute ist“.(A.a.O., S. 272.) Es besteht für Rudolf Steiner kein Zweifel, dass jedes Gefühl unter diese begriffsrealistische Betrachtung fällt. Würde man sie wissenschaftlich ausarbeiten, so würde deutlich: „Da fließen Zukunft und Vergangenheit unseres Erdenwerdens in jedem einzelnen, im geringsten Gefühle ineinander“. (A.a.O., S. 273.) Verifiziert werden kann diese Betrachtungsart durch die feinfühlige Beobachtung von Sterbenden, die auf die bereits erwähnte Identität von Subjekt und Objekt des Gefühls am Ende des Lebens zugehen. Dann kann sich zeigen, dass durch den „Umstand, dass ein Tod schon heranrückte, über das Gefühlsleben der eigentliche Charakter, die eigentliche Wesenheit ausgegossen wird“. (A.a.O., S. 272.)

Konsequenzen für die Forschung

Die Formulierungen des jetzt mehrfach zitierten Vortrags sind sehr eindringlich gehalten, insbesondere was die Forschungsperspektive der Psychologie betrifft. Rudolf Steiners Darstellung macht überaus deutlich, dass er seine Hinweise als einen allerersten Anfang betrachtete, der nun geisteswissenschaftlich genauer ausgeführt und  weiterentwickelt werden müsste. Deutlich wird, dass die Forschung nicht bei der Beobachtung des Seelenlebens stehen bleiben kann, dass eine deskriptive Untersuchung nicht einmal ihr Ausgangspunkt sein könnte. Vielmehr würde eine illusionsfreie Untersuchung der Seele voraussetzen, dass der Forschende sich selbst einer geistig-seelischen Entwicklung unterzieht. Nur die geistige Selbstaktivierung kann die Grundlage für eine solche wissenschaftliche Psychologie bilden: Die Erforschung des Denkens bedarf einer Denkaktivierung im Forschenden, der dadurch die Erkenntnissensibilität für den Denkprozess in seinem Zusammenhang mit Aufwachen und
Geburt herstellt. Die Erforschung des Willens setzt in ähnlicher Weise eine Willensaktivierung voraus, in der die Bewusstheit und die Ausgestaltung eigener Intentionen so intensiv erlebt wird wie sonst nur das Bedürfnisleben. Dann muss der Forscher etwas in sich finden, das er „in seinen Willen hereinstellen kann, so in seinen Willen hereinstellen kann, dass die Selbstkultur, die Selbstzucht ihm so schwierig erscheint, aber in gleicher Weise so begehrenswert erscheint wie sonst nur diejenigen Willenshandlungen, die den ganz unvermeidlichen Trieben des menschlichen Lebens entsprechen“. ( A.a.O., S. 261.) Das Willensziel selber wird zum Bedürfnis und damit zu einer seelischen Lebensgrundlage, die nicht einfach im Inneren vorzufinden ist, sondern in ihrer Erlebniswirklichkeit erst hervorgebracht werden muss. Selbstverständlich wird dieser Zusammenhang von Rudolf Steiner 1918 noch in Begriffen formuliert, die den damaligen menschenkundlichen und ethischen Betrachtungsweisen entsprechen. Für ein modernes individuelles Selbstverständnis ist aber daraus erkennbar, dass die Entwicklung von Bedürfnis, Trieb und Instinkt zunehmend von der Bewusstheit und Konsequenz eigener Intentionalität abhängt.

Ähnliches gilt auch für die Erforschung des Gefühls. Das Subjekt des Gefühls, der Fühlende, der aus der Zukunft heraus im jeweiligen Lebensaugenblick seine biografische Vergangenheit, also das Gefühlte, wahrnimmt, ist als Zukunftsmensch in mir intentional. Es handelt sich nicht um eine inhaltlich prognostizierte Zukunft, sondern um die Kraft, aus der heraus ich auf das Unbekannte dieser Zukunft zugehe und es gestalte. Realisiere ich diesen Begriff des Gefühls, so wirkt er in mir gefühlsschaffend – und erst dann kann ich das Gefühl erkennen – indem ich es hervorbringe. Zugleich wird deutlich, dass eine Psychologie, die fühlen und empfinden aus der biografischen Vergangenheit erklären will, letztlich die Gegenwart mit der Verlängerung dieser Vergangenheit verwechselt. Wer die Ursache der Gegenwart in der Vergangenheit sieht, gelangt nicht in die Gegenwart, sondern bleibt bei einer Prolongierung des Gewesenen stehen. Gegenwart entsteht erst, wenn ich durch Zukunftsintention zu dem Gewesenen das Zukünftige hinzubringe; genau in diesem Berührungspunkt entsteht das erlebte Jetzt als Selbstgefühl und als jede einzelne Empfindung. Zu fragen wäre, ob ein ähnlicher Zusammenhang heute, also nahezu 100 Jahre später, nicht auch für die Sinnesempfindung hergestellt werden muss: Wenn ich nicht die Intention meiner Zuwendung zu den Dingen in die Sinneswahrnehmung hineintrage, bleibt mein Erleben an der sinnlichen Wahrnehmung vergangenheitsverhaftet, d.h. dann tritt eigentlich nicht die Gegenwartswelt, sondern eine vergangene Realität in mein Bewusstsein! Würde sich eine solche Forschungsperspektive bestätigen, so könnten sich weitreichende Konsequenzen nicht nur für die Psychologie, sondern auch für die Wahrnehmungslehre ergeben.

Gegenwart erfordert Weiterdenken

Die genannten Forschungsprinzipien sind selbstverständlich auch auf die neue Psychologie und auf den Umgang mit den Anregungen Rudolf Steiners anzuwenden. Letztere können nicht jenseits von geistiger Selbstaktivierung, jenseits von der Einbeziehung intentionierter Zukunft verstanden und weitergeführt werden. Würde eine reine Zurkenntnisnahme, Rezeption oder gar Anwendung der Darstellungen Rudolf Steiners angestrebt, so geriete man
für die psychologische Forschung in die bereits angedeutete Gefahr, eine verlängerte Vergangenheit mit der eigenen Gegenwart zu verwechseln. Die methodischen Voraussetzungen, die Rudolf Steiner zwar nicht erkenntnistheoretisch explizit, aber unübersehbar implizit zugrunde gelegt hat, würden dann nicht berücksichtigt, und man würde weniger dem Geist als dem Buchstaben seiner Ausführungen folgen. Im Sinne einer wirklichen Vergegenwärtigung der psychologischen Perspektiven Rudolf Steiners wäre außerdem die Entwicklung des Ich in der Bewusstseinsseele, die sich in den letzten 100 Jahren vollzogen hat, in die Erkenntnisgrundlagen miteinzubeziehen.

So wäre beispielsweise zu überprüfen, ob die Erkenntnisgrundlagen für die Erforschung von Denken, Fühlen und Wollen inzwischen nicht näher zusammengerückt sind, als Rudolf Steiner sie 1918 dargestellt hat. Die Untersuchung des Denkens, beruhend auf der geistigen Selbstaktivierung bzw. –intensivierung des Denkens, und die Erforschung des Willens aus dem Erleben der existenziellen Bedeutung eigener Willensorientierungen und schließlich das Erleben des Gefühls aus dem zukunftsgeführten Ankommen in der Gegenwart heraus – sie
sind in der Lebenssituation der Individualität nahe zusammengerückt. Fast kann der Eindruck entstehen, dass sich die von Rudolf Steiner beschriebenen Forschungsgrundlagen inzwischen zu Lebensgrundlagen entwickelt haben: Ohne Zukunftsbezug tendiert das Gefühlsleben zu depressiven Grundstimmungen; das Leben aus der eigenen Vergangenheit macht depressiv, ebenso wie eine Vergessenheit bisheriger Biografie gegenüber illusionären Gefühlsstimmung Vorschub leistet. Ohne individuelle Willensaktivierung besteht die Gefahr, sich in den
Orientierungen an den Vorgaben von Wissenschaft und Zivilisation zu verlieren, und ähnliches gilt für das Denken – wer nicht erlebt, dass er selber im Denken die Zusammenhänge bemerken muss, die für sein Leben wichtig sind, verfällt einer problematischen Verobjektivierung von Rationalität.

Fast kann der Eindruck entstehen, dass damit der Lebensaugenblick, der von Rudolf Steiner als fühlende Wahrnehmung biografischer Vergangenheit aus dem Schritt in die Zukunft beschrieben wird, heute die beiden anderen Schwellen mit einbezieht. Denn das Ankommen im Lebensaugenblick, das Aufwachen in der eigenen Gegenwart kann durchaus als eine dritte Schwelle erlebt werden, die es heute neben der Schwelle der Geburt und der Schwelle des Todes aktiv zu überschreiten gilt. Mit dieser Zusammenführung umfasst der Lebensaugenblick aber in seiner Zukunftsorientierung auch den zukünftigen Menschen jenseits der Todesschwelle und den vorangegangenen Menschen vor der Schwelle der Geburt.

Als Forschungsfrage wäre also zu überprüfen, ob nicht heute im Lebensaugenblick karmische Vergangenheit mit anwesend ist, sobald ich das Schicksal der Zukunft intentional miterfasse. Das Karma liegt dann nicht in „vergangenen“ Inkarnationen, sondern diese sind, bei entsprechender Zukunftsöffnung, im Jetzt des Selbst- und Lebensgefühls der Individualität anwesend. In ähnlicher Weise könnte zukünftige Schicksalsentwicklung, sowohl in der Dimension der nachtodlichen Existenz als auch im Hinblick auf folgende Inkarnationen, in der Intentionalität der Gegenwart mit anwesend sein. Würden sich diese Vermutungen bestätigen, so hätte die Erforschung des Gefühls unter den von Rudolf Steiner anfänglich beschriebenen Erkenntnisgrundlagen eine noch höhere Bedeutung, als sie vor 100 Jahren dargestellt werden konnte: In der Erkenntnis des Gefühls würde sich für die neue Psychologie eine Beziehung zum Denken und zum Wollen mitergeben. Das Fühlen als Mitte zwischen Denken und Wollen bekäme erkenntnistheoretisch, in der Lebensgestaltung und therapeutisch eine noch deutlichere Schlüsselposition.

Die Beziehung zum Leib

So könnten auch weitere Forschungsrichtungen einbezogen werden, die Rudolf Steiner unter den Bedingungen des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts lediglich andeuten konnte. Zu denken ist dabei beispielsweise an die bereits erwähnte Perspektive des Heilpädagogischen Kurses, die die alte psychologische Maxime anima forma corporis (die Seele als Form des Leibes) im Blick auf das menschliche Denken einlöst. Die Beziehung des Ich zum Denken wird in ihrer leibschaffenden Kraft bemerkt; damit wird eine Wirkungsdimension des Denkens nach und nach zugänglich, die normalerweise in der Denkanstrengung und im Denkinhalt verborgen bleibt: der Kraftschluss des Denkens in die Organbildung hinein. Dieser Zusammenhang kann hier nicht näher dargelegt werden; wohl aber möchte ich darauf hinweisen, dass die Vermittlung zwischen Denken und Organbildung bzw. Organfunktion wieder in einem Gefühl oder einer Empfindung zu suchen ist.

In einer anderen thematischen Ausrichtung hat Rudolf Steiner im Jahr 1924 im Anthroposophischen Leitsatz Nummer 59 angedeutet, dass der Mensch in sich das Gefühl rege machen kann, selbst aus dem Denken zu leben. Man könnte hinzufügen: In einem leisen Untergrund des Selbstgefühls lebt die Empfindung, dass ich letztlich aus meinem Denken existiere. Auch meine Gefühle und mein Wille integrieren sich zu meiner Empfindung und
meiner Intention, indem ich in jedem Moment denkend den begründenden Ich-Zusammenhang bilde. Man könnte noch einen Schritt weitergehen und eine Aufmerksamkeit dafür entwickeln, dass in diesem Gefühl, aus dem Denken zu leben, eine Art empfindender Herzfunktion der eigenen Existenz besteht – vielleicht vorgeburtlich der Ausgangspunkt auch für die organische Bildung des Herzens, die ihrerseits dem gesamten Organismusprozess
zugrundeliegt. Denn im Herzprozess zeigt sich ein Charakteristikum jedes Organs und des ganzen Organismus: dass sich Organbildung und Organfunktion nur dann realisieren können, wenn eine gegenseitige Sensibilität der Organe das funktionale und prozessuale Geschehen als Formkraft bestimmt. Mit anderen Worten: Das Gefühl, dass ich aus dem Denken lebe, geht in der vorgeburtlichen Organbildung, in der Entwicklung des Organismus in Kindheit
und Jugend und in der Funktion der Organe im Erwachsenenalter permanent als Form- und Richtkraft in den Gesamtorganismus ein. Gegenseitige Sensibilität und Funktionalität der Organe müssen sich entsprechen, und urbildlicher Ausdruck dieses Geschehens ist das Herz in seiner umfassenden Sensibilität. (Genaueres zu dem Zusammenhang von Sensibilität und Funktionalität: Wolf-Ulrich Klünker: Ich-Empfindung im Denken. Die Grenze des Organismus; in: Christiane Haid, Wolf-Ulrich Klünker, Mechtild Oltmann: Johannes-Lazarus. Die Geistselbst-Berührung des Ich. Dornach 2016, S. 39-64. Und: Ders. Ich-Empfindung im Leib. Der neue Organismus. A.a.O., S. 65-84.) Damit hätte das Ankommen im Lebensaugenblick, das umfassende Erwachen im gegenwärtigen Selbstgefühl sowie in den einzelnen Gefühlen auch Auswirkungen auf die individuelle Organentwicklung und –gesundheit. Diese menschenkundliche Perspektive könnte über die bestehenden psychosomatischen Erkenntnisse hinaus psychohygienische und leibhygienische Bedeutung gewinnen.

Schon an diesen Formulierungen wird deutlich, dass es sich um allererste, noch eher vermutete Grundlagen für zukünftige Forschungsrichtungen handelt. Sie können aber eine Ahnung davon ermöglichen, dass Rudolf Steiners „Forschungsprogrammatik“ einer Erkenntnis des Gefühls vom 10. Oktober 1918 Ansatzpunkt für eine psychologische „Spitzenforschung“ im umfassenden Sinne werden könnte