30. Juni 2017

Empfindung – Individualität – Objektivität


Veröffentlicht in: Anthroposophie – Juni 2017

 

Wolf-Ulrich Klünker im Gespräch mit Ronald Richter und Stefanie Benke

Ronald Richter: Ein zentraler Begriff Deiner Forschung ist die Empfindung. Weshalb ist die Empfindung gerade in unserer Zeit heute so wichtig?

Wolf-Ulrich Klünker: Weil die Empfindung sich inzwischen gleichsam objektiviert hat. Das ist eine menschenkundliche Erkenntnis, die wenig verbreitet, aber wichtig ist. Die Empfindung oder das Gefühl war bis vor kurzem noch Ausdruck des Subjektiven schlechthin. Die Erkenntnis aber, die als objektiv gilt, war eben gerade nicht Gefühl, sondern war entweder Gedankenverbindung oder Denken oder beides. Und jetzt haben wir die Situation, dass das Verhältnis zwischen Individualität und Empfindung ein völlig anderes geworden ist. Ich habe den Eindruck, dass die Objektivität von Empfindung nur über den geisteswissenschaftlichen Begriff des Geistselbst zugänglich werden kann. Rudolf Steiner hat vor über 100 Jahren davon gesprochen, dass es im Prinzip möglich ist, einen Empfindungsraum im Ich aufzubauen, der sowohl vom Ich produziert ist, als auch vom Ich erlebt wird. Und dieser Erfindungsraum, der liegt – das würde ich für die Gegenwart so sagen – hinter dem Denken. Er ist durch ein aufgeklärtes Bewusstsein des 20. Jahrhunderts hindurch gegangen. Und dieses Durchgehen durch das aufgeklärte Bewusstsein des 20. Jahrhunderts, in dem sich das Ich vollständig bewusst oder unbewusst mit dem Denken verbunden hat, verobjektiviert die Empfindung, ohne dass sie dadurch weniger individuell wird.

Stefanie Benke: Was bedeutet denn „hinter dem Denken“? Nach dem Denken? Oder ist das geisträumlich zu sehen?

WUK: Das „hinter“ bezieht sich auf eine untergründige Wirkung des Denkens, die normalerweise nicht ins Bewusstsein tritt. Und zwar schafft diese untergründige Wirkung völlig unabhängig von der Art und auch vom Inhalt des Denkens eine innere Verbindung des Ich mit dem Denken. Es ist heute tatsächlich so, dass die Steinersche Formulierung „Das Ich lebt im Denken“ vollständig eingelöst ist. Eine Untergrundwirkung ist nie mit der oberflächlichen oder mit der bewussten Wirkung zu identifizieren. Sie ist vielmehr diejenige Kraft, mit der ich mich mit dem Denken verbinde, die in der Seele vom Ich her im Hintergrund gefühlsschaffend wirkt. Das meint „hinter dem Denken“. Und im Sinne einer solchen untergründigen Wirkung entstehen zunächst minimale Gefühle, ganz kleine Empfindungen, die meistens überlagert werden von den viel spektakuläreren Gefühlen, die man normalerweise hat. Es käme darauf an, eine Aufmerksamkeit zu entwickeln für diese kleinen Gefühle, die immer im Hintergrund meines denkenden Weltverhältnisses entstehen.

RR: Warum? Was sagen diese kleinen Gefühle?

WUK: Das ist eigentlich immer ein neues Empfinden, als Bewusstsein für Zusammenhänge. Zwei alte Begriffe lösen sich da ein. Erstens der Begriff des Wahrheitsgefühls – diese Empfindungen beziehen sich auf Zusammenhänge und beurteilen latent und untergründig dauernd Wahrheit und Unwahrheit. Ich habe im Ich ein untrügliches Wahrheitsgefühl, an das ich mich halten kann. Das zweite ist die Aussage aus dem Johannes-Evangelium: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Was heißt das eigentlich? Wie kommt es, dass ein Erkenntnisprozess, eine geistige Bewegung, seelisch befreiend wirken kann? Hier liegt ein großes Problem mit dem Ebenensprung, der vom Geistigen zum Seelischen stattfindet. Die geistige Freiheit hilft überhaupt nichts, wenn ich seelisch gebunden bin. Und dieser Übergang ins Seelische wird durch die Untergrundwirkung des Denkens möglich, dass ich nämlich diese leise Empfindungsschicht ausbilde, allmählich – eben unabhängig vom Inhalt -, und diese Empfindungsschicht mich in eine Art von Ichseelenhaftigkeit bringt. Da bin ich frei. Geistselbst ist, das kann man heute sagen, weil dieser Begriff nicht mehr nur zukunftsbezogen ist, sondern im Prinzip eingelöst werden kann – Geistselbst ist nichts anderes als eine Ichseelenhaftigkeit.

RR: Und was genau ist Ichseelenhaftigkeit?

WUK: Das ist eine Seelenhaftigkeit, in der ich gleichermaßen erlebend, das heißt empfangend, und aktiv drin stehe. Es ist zum Beispiel ein Unterschied, ob ich ichseelenhaft müde bin oder ob ich normal seelenhaft müde bin. Wenn ich ichseelenhaft müde bin, brauche ich viel weniger zu schlafen. Wenn ich ichseelenhaft Auto fahre, macht mir das nichts aus, was für andere zur Hölle wird beim Autofahren. Wenn ich ichseelenhaft mich zu Menschen stelle, dann komme ich an Schichten heran, die man normaler Weise gar nicht bemerkt. Und das Gute daran ist, dass ich von dem Moment an das Seelenhafte und die Empfindung nicht mehr zu deuten brauche. Es ist eine neue Bewusstseinsform, die sich selbst deutet; sie ist sogar Interpretament für andere Gefühle und Erlebnisse.

SB: Also liegt der Unterschied zwischen dem Gefühl im normalen Sinne und der Empfindung hinter dem Denken darin, dass das Gefühl eher subjektiv in mir auftaucht und einfach nur aufsteigt, während die Empfindung hinter dem Denken von mir durch geistige Tätigkeit gebildet wird, aber trotzdem gefühlsschaffend ist. Ist das die Grenze zwischen Gefühl und Empfindung?

WUK: Das kann man so sagen. Diese Empfindungsschicht verbindet mich mit der Welt und mit andern Menschen, während die mitgebrachten Gefühle mich eher von der Welt abschließen. Da bin ich sozusagen nur in mir, auch wenn ich auf die Welt und andere Menschen mit diesen Gefühlen reagiere. Ich denke auch, dass die neue Gefühlsschicht in jeder Hinsicht das Leben erleichtern könnte, wenn man sich darauf besinnen würde. Ich werde dann unabhängig von dem, was um mich geschieht, aber nicht, indem ich mich herausziehe, sondern indem ich drin bin – aber in jeden Moment wissen kann, dass nicht aussagefähig ist, wie ich mich jetzt fühle, sondern in diesem Empfindungsprozess drauf warten kann, was daraus in Zukunft wird. Die Empfindung hinter dem Denken oder dieses ichhafte Gefühl hat allerdings zur Voraussetzung, dass ich mir in jedem Moment verdeutliche, wo ich mich in der Empfindung gerade befinde und eine Art von innerer Rückkopplung mit mir selbst herstellen kann.

RR: Es ist aber doch schwer, auseinander zu halten, was altes Gefühl ist und was dieses neue Gefühl, was Empfindung hinter dem Denken ist.

WUK: Der Begriff der Schwelle gewinnt da eine große Bedeutung. Es gibt zwei Schwellen: eine persönliche und eine geistige Schwelle. Das Gefühl hat viel mit der persönlichen Schwelle zu tun, positiv wie auch negativ, bis hin zu Krankheitsgeschehen und Schicksalsschlägen. Die persönliche Schwelle erfordert, dass ich Erfahrungen mache an der nicht-persönlichen, an der geistigen Schwelle. Das bedeutet, dass ich eine denkende Erfahrung von geistiger Selbstaktivierung brauche. Die Parallelität der beiden Schwellen bewirkt allmählich, dass etwas von der geistigen Schwelle, also von dem Erlebnis an der Erkenntnisschwelle, hinüber diffundiert zur persönlichen Schwelle und sich dadurch an der persönlichen Schwelle eine Entwicklung vollziehen kann. Denn was an der persönlichen Schwelle begegnet (biografische Erfahrungen und die innere Reaktion darauf), ist zunächst noch nicht individuell, sondern eher vor-individuell. Und durch das, was allmählich an Kraftwirksamkeit von der geistigen Schwelle dahin fließt, findet die eigentliche Individualisierung erst statt, auch in diesem persönlichen Bereich.

SB: Meinst du mit persönlicher Schwelle, dass man existentiell an seine Grenze kommt?

WUK: Genau; hier liegt eine Schicksalsdimension.

SB: Und mit geistiger Schwelle meinst Du, dass man gedanklich an seine Grenze kommt?

WUK: Dass man permanent an Erkenntnisgrenzen operiert, sich das aber auch klarmachen muss. Schulungsweg meint ja nichts anderes, als bewusst an diesen Erkenntnisgrenzen zu operieren. Wenn das biografisch eine Zeit lang praktiziert, d.h. ernsthaft betrieben wird, dann findet die erwähnte Wirkung statt, die die persönliche Schwelle, das seelische Empfinden, allmählich verwandelt hin zum Ich-Empfinden. Gleichsam selbsttherapeutisch oder hygienisch formuliert: Die Erfahrung zeigt, dass die Probleme an der persönlichen Schwelle durch geistige Arbeit nicht unbedingt gelöst, sondern dass sie allmählich unbedeutend werden. Das bewirkt eine nach und nach umfassende Lebensveränderung.

SB: Der Bereich der Empfindung hinter dem Denken ist also wie eine Berührung von Ich und Welt. Diese Empfindung ist nicht mehr nur subjektiv, sondern gewinnt auch objektiven, sogar wirklichkeitsschaffenden und auch erkennenden Charakter. Wie kann es sein, dass das, was ich empfinde, zugleich das Sein der Welt mit umfasst? Wie entsteht die Brücke zwischen Bewusstsein und Sein? Oder wie gelangt das Sein der Welt in mein Bewusstsein – nicht nur spiegelnd, sondern real?

WUK: Auf dieser Ebene der Kraft sind Sein und Bewusstsein nicht getrennt. Die aristotelische Menschenkunde kannte einerseits den Intellectus-Prozess, mit dem ich mit der Welt verbunden bin, und andererseits den Sensus-Prozess, durch den ich ebenfalls mit der Welt verbunden bin – aber in unterschiedlicher Weise. Denn der Sensus-Prozess umfasst alles von der Sinneswahrnehmung bis zum Selbstgefühl. Der Intellectus-Prozess basiert natürlich auf dem Sensus-Prozess, aber er geht weit darüber hinaus, weil er eben – und das war damals so im Mittelalter – das Gebiet der inneren Aktivität war. Wir können heute diese Aktivität auch auf den Sensus-Prozess ausweiten. Die Welt ist in der – nennen wir es einmal Erkenntnistheorie des Aristotelismus – nicht nur im Erkennen oder in der Sinneswahrnehmung widergespiegelt, sondern Erkennen und Sinneswahrnehmung gehören mit zum Weltprozess. Eine der interessantesten Aussagen stammt von Thomas von Aquin in seiner „Physik“: Nicht jeder Gegenstand wird immer wahrgenommen (das kann man auch auf die Erkenntnis beziehen), aber kein Wahrnehmbares ohne Wahrnehmenden. Es gibt doch diese Beispiele: Die Vögel im Wald singen auch, wenn kein Mensch im Wald ist; das könne man durch ein Tonband beweisen. Doch das Tonband substituiert ja nur mich. Ich hätte ja gar keinen Begriff von dem, was im Wald läuft, wenn ich nie da wäre. In der „Physik“ macht Thomas das Verhältnis zwischen Subjekt und Welt an konvex und konkav fest. Ein Gegenstand ist natürlich konvex und konkav – aber je nachdem, ob ich von innen schaue oder von außen. Ich kann eine objektive Aussage nur dazu machen, ob was konvex oder konkav ist, wenn ich berücksichtige, von wo aus ich schaue. Und das gilt für alles in der Welt. Man kann das Subjekt des Denkens oder der Beobachtung nicht herausrechnen, bzw. wenn man es herausrechnet, ist es eine Abstraktion.

RR: Ist das die Autopoiesis? Dass Dinge dadurch, dass man sie anschaut, erst geschaffen werden? Es gibt doch einen Satz von Schopenhauer, dass erst mit dem ersten Auge das aufgeschlagen wird, um auf die Welt zu blicken, die Welt entsteht. Ist es das?

WUK: Das ist es. Aber da steckt noch zu stark drin, dass dieses Auge als Bild wiedergibt, was Wirklichkeit ist. Man müsste dahin kommen, Wahrnehmen und Erkennen als zur Wirklichkeit gehörig anzusehen. Dies hat zur Voraussetzung, dass ich bei der Selbsterkenntnis ansetze. Denn bei der Selbsterkenntnis kann ich ab einem gewissen Punkt nur das erkennen, was ich auch hervorbringe. Erkennendes und Erkanntes sind ein und dasselbe. Ich kann mich aber auch nur hervorbringen, wenn ich mich erkenne. Und der zweite Schritt der Selbsterkenntnis fängt bei Kindern an, ist aber in zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso anzutreffen: Das Kind kann nur das werden, was ich in ihm sehe. Ich muss natürlich aber das in ihm sehen, was es ist oder noch nicht ist, was aber zu ihm gehört. Auch bei Erwachsenenbeziehungen verläuft es so. Alles andere ist eine Abstraktion. Ich glaube, wir sind heute zivilisatorisch an einem Punkt, an dem man merkt: das gilt auch für die Natur. Wenn die Natur keiner sieht, kann sie sich nicht entwickeln.

SB: Inwiefern wirkt auf die Natur, dass wir sie wahrnehmen?

WUK: In dem Moment, wo wir durch die Empfindung hinter dem Denken in die Empfindung eine ätherische Kraft integrieren, durch die wir auch leben, wenn also die Empfindung als astrale Wirklichkeit ätherisch kraftschlüssig wird, wird die ätherische Wirklichkeit und die Natur empfindend für das, was ihr entgegengebracht wird. An dieser Grenze ätherisch-astral besteht immer eine Gegenseitigkeit. Ich werde sozusagen in meinem Astralgeschehen kraftschlüssig hin zum Ätherischen und das Ätherische wird dadurch sensibel. Und insofern entsprechen sich die Naturentwicklung und die Ich-Entwicklung an diesen Punkten.

Die Natur um uns herum in Mitteleuropa ist menschengeschaffen. Ich habe das früher auf Bildern im Heidelberger Museum gesehen: Vor 200 Jahren waren die Berge kahl, nicht nur, weil sie abgeholzt wurden vom Schiffsbau usw. Was wir als Natur bezeichnen, ist eigentlich ein Produkt von menschlicher Kultur. Und das wird immer mehr gelten – das ganze ökologische Problem fordert nicht, dass ich mich einer objektiven, von Menschen unabhängig existierenden Natur zuwende, sondern stellt die Frage: Wie kann ich mich als Mensch wieder mit Teilaspekten der Natur verbinden?

RR: Es ist völlig plausibel, dass das eine menschliche Natur ist, die wir heute um uns haben, weil sie von uns geformt ist. Wie können wir zurückfinden, oder sollen wir zurückfinden zu einer Natur, die da als Hintergrund ist?

WUK: Jeder kennt das ja von sich selbst: Was ich mit mir gemacht habe, wie ich gelebt habe und was ich an Intentionen gehabt und realisiert habe, wird mir irgendwann habitualisiert wieder als innere Natur entgegenkommen. Und ich glaube, das gilt inzwischen eben auch für das Verhältnis von Mensch und Natur. Es gibt diese alte Aussage, die auf Albertus Magnus zurückgeht: opus naturae est opus intelligentiae. Ganz ursprünglich waren die Denkkraft und die Naturkraft der Intelligentia und ätherische Wirklichkeit identisch. Die Seelenwirklichkeit schiebt sich nur dazwischen, und dann sind Sein und Bewusstsein etwas Unterschiedliches. Beim Engel als Intelligenz- oder Intellectus-Wesen sind Sein und Bewusstsein dasselbe. Der Engel erkennt das, was ist in der Natur, und er ist das, was er erkennt. Bei uns hat sich für lange Zeit das Seelische dazwischengeschoben, aber inzwischen ist eben durch die Objektivierung (nennen wir es mal so) der Empfindung hinter dem Denken das seelische Erleben kein Hinderungsgrund mehr für ätherische Wirklichkeit. Und in der Empfindung und Wahrnehmung hinter dem Denken kommt praktisch der Intellectus-Prozess wieder beim Ätherischen an. Damit haben wir eine durchgängige Fläche von Wirklichkeit darin enthalten.

RR: Findet man so den Christus im Ätherischen?

WUK: Ich bin gerne ein bisschen vorsichtig mit solchen Begriffen. Die sogenannte Wiederkunft des Christus im Ätherischen ist eigentlich eine Empfindungsfrage, weil man sich dem Ätherischen nur in der jetzt besprochenen Empfindungsdimension nähern kann. Insofern ist weniger der Blick aufs Ätherische notwendig, sondern eher auf die Empfindung dabei. Was damit von Rudolf Steiner gemeint war, ist ja nur ein Vergleich mit der Situation um die Zeitenwende vor 2000 Jahren. Damals war Christus eben auch physisch, sinnlich sichtbar; (jedenfalls ansatzweise und auch mit Schwierigkeiten; denn wie man von den Jüngern weiß, waren die sich gar nicht immer so sicher). Das gilt heute nicht mehr, Christus nur übersinnlich wahrnehmbar. Dieses Übersinnliche liegt in der Empfindung.

SB: Kann man sagen, dass das Verhältnis zum Göttlich-Geistigen heute eigentlich überhaupt nur auf dieser Ebene liegt?

WUK: Ja, und dann braucht man es auch nicht immer so zu bezeichnen, weil diese Empfindungswirklichkeit eben leise ist. Zum Beispiel stelle ich die Beziehung zum Engel her, wenn bei mir Sein und Bewusstsein nicht mehr auseinanderfallen. Der Engel ist, was er erkennt. Aber das, was er erkennt, ist auch dadurch, dass er es erkennt. Gegenstandsbewusstsein und Selbstbewusstsein fallen zusammen. Das ist bei uns in dieser Empfindung der Fall. Ich habe die Empfindung an etwas. Diese Empfindung hat wirkliche Auswirkungen auf mein Selbstgefühl, wenn ich damit verbunden bin. Dieses Selbstgefühl, diese Wirkung auf mich wiederum, ist kraftschlüssig-ätherisch in den Lebenszusammenhang, Existenzzusammenhang des entsprechenden Gegenstandes hinein. Wir kennen diese Wirkung aus der Beziehung zu anderen Menschen. Und die wäre jetzt auch auf Naturgegenstände auszudehnen.

RR: Aber findet die Beziehung mit dem Engel nur im Bewusstsein statt, oder findet sie zum Beispiel auch im Schlaf statt?

WUK: Durch diese Entwicklung, über die wir sprechen, kommen wir auch im Schlaf in traumähnlichen Zuständen an die echte Schwelle heran. Sonst sind Schlaf und Traum eben auch entsprechend illusionär. Aber das kann da anders werden, so dass es dann beim Einschlafen oder Aufwachen wirklich zu solchen Schwellenerlebnissen kommt, in denen beispielsweise Wesen auftauchen, die man aus mittelalterlichen Darstellungen kennt und die sich dadurch auszeichnen, dass sie immer auf der Grenze zwischen ätherischer und astraler Wirklichkeit existieren: Tiere, die in Pflanzen übergehen, wie man sie von Friesen und Kapitellen aus dem Mittelalter kennt. Und ich glaube, die Begegnung mit dem Engel ist heute eine Begegnung mit den Weltgegenständen auf dieser Empfindungsebene. Wie früher die Engelbegegnung für die Welt nicht gleichgültig war, ist heute meine Begegnung mit den Dingen für die Dinge nicht gleichgültig. Und das Neue Jerusalem wird ja von oben gebaut und nicht von unten – das bedeutet eben, dass die Empfindungskraft tatsächlich als Lebens- und Entwicklungskraft für die Gegenstände wirksam wird. Das Neue Jerusalem ist natürlich nicht mit einem Mal fertig. Man darf nicht sofort eine umfassende neue Wirklichkeit erwarten, aber insofern sich viele Menschen individuell mit ihrem Weltausschnitt verbinden können, entsteht das Neue Jerusalem nach und nach.

SB: Aber diese Empfindungsebene ist nicht so verbreitet oder bewusst. Was hindert uns denn heute daran, da hineinzukommen?

WUK: Das Problem scheint mir zu sein, dass eben noch aus dem Gefühlsbegriff des vergangenen Jahrhunderts gelebt wird, dass ganz stark der Begriff des Unbewussten aus der Psychoanalyse zivilisatorisch nachwirkt und man von daher nur auf die Gefühle blickt, wie sie einfach auftreten. Das zweite Problem ist, dass man im Bereich des Denkens und der Erkenntnis dauernd auf die Ergebnisse schaut und nicht auf die hintergründige und untergründige Wirkung der eigenen Erkenntnishaltung in der Empfindung und im Selbstgefühl.

SB: So ist es eigentlich nur ein Problem der Blickwendung?

WUK: Ja, der Selbstsensibilisierung und damit der Blickwendung, würde ich sagen. Diese Prozesse kommen aber so richtig zur Geltung und werden auch wahrnehmbar, wenn ich etwas unternehme, was früher geistige Schulung hieß, also geistige Selbstaktivierung intendiere. Diese ist so etwas wie ein Zünglein an der Waage. Sie ist ganz minimal, zu all dem, was ich sonst noch bin und tue, aber dieses Minimale hat eine große Wirkung. Als Kind habe ich – ich bin an der Weser aufgewachsen – noch gesehen, wie die Flussschiffe riesige Steuerräder hatten, an die man sich mit Kraft dranhängen musste, um den Kahn zu steuern. Und heute sitzen bei den größten Schiffen die Schiffsführer ganz entspannt da und bewegen nur den Finger an einem Stick; kleinste Bewegungen haben Auswirkungen auf größte Kräfte. Aber was technisch geschieht, ist meist nur Ausdruck davon, was auch ichhaft wirklich wäre: dass ich durch kleine Veränderungen, mit denen ich aber verbunden bin, größte Wirkung auslösen könnte.

RR: Wie kann ich solch eine Selbstaktivierung mir selbst entwickeln?

WUK: Die entscheidende Frage ist: Was liegt für mich an oder was will ich machen? Woran bin ich interessiert? Und es kommt darauf an, dass ich dies dann angehe. Jeder hat doch ein Interessengebiet; etwas, was er noch nicht für sich realisiert hat. Ich glaube, wenn man da die ersten Schritte tut mit einer gewissen inneren Konsequenz, dann wird sich alles weitere von selbst zeigen.

SB: Wirkt dies dann schicksalsschaffend?

WUK: Dadurch kommen die eigentlich ordnenden Kräfte in meine Biografie. Und diese wartet heute darauf. Seit eine solche Geistselbst-Schicht des Ich möglich ist, muss alles, was ich biografisch mitbringe, was ich von meiner menschlichen Umgebung her mitbringe, was ich karmisch mitbringe, umgewandelt werden. Es kann nur noch als vorindividualisiert gelten und wartet drauf, dass die eigentliche Individualisierung durch diese kleine Kraft geistiger Selbstaktivierung dazukommt. Dadurch entsteht auch ein neues Verhältnis zur geistigen Welt, weil in dieser Empfindungsschicht das Spirituelle gar nicht mehr vom Irdischen zu trennen ist. Das führt zum Beispiel zu Naturerlebnissen, bei denen ich mir nicht theoretisch oder esoterisch die Elementarwesen noch dazu denken muss, sondern die Elementarwelt und die geistige Welt der Hierarchien ist unmittelbar in diesem Erleben präsent. Und wenn dauernd von Elementarwesen und Hierarchien in der Natur gesprochen wird, ist das eher ein Zeichen dafür, dass man noch in alter Weise darauf sieht.

RR: Benötigt man die Mit-Empfindung eines anderen Menschen dazu?

WUK: Ich glaube, dass in diesen filigranen inneren Bereichen man immer das Bewusstsein braucht, dass man im Prinzip von einem oder mehreren anderen Menschen begleitet wird, auch wenn man nicht mit ihnen darüber spricht. Man muss sich in dieser Empfindungsschicht von jemanden miterlebt erleben. Und ich glaube auch, dass Entwicklung von zwischenmenschlicher Beziehung heute sehr damit zusammenhängt, ob es uns gelingt, wechselseitig Sensibilisierung für diese Schichten des jeweils anderen hervorzubringen. Von der Beziehungsentwicklung her ist es so, dass eigentlich nicht mehr das tragfähig ist, was emotional da ist, sondern was sich in dem neuen Empfindungsraum an wechselseitiger Begleitung entwickeln kann. Und ich glaube sogar, dass dies auch für die Beziehung von Eltern zu Kindern gilt. Die Kinder existieren dadurch, dass sie sich in ihrem Welterleben miterlebt fühlen. Wenn das aufhört, dann machen sie keine Entwicklung mehr. Das ist mehr als Empathie, das hat etwas damit zu tun, dass wir beide innerlich in diesem Weltprozess zusammenkommen.

SB: Ist das die eigentliche soziale Kunst heute?

WUK: Ja, die Welt ist auf diese Art von sozialer Kunst angewiesen. Wenn ich mich nicht begleitet fühle innerlich, in meinem Erleben nicht miterlebt erleben kann, kann ich mir auch keine neuen Natur- oder sonstigen Weltbereiche erschließen. Das ist eine neue Kunst. Diese Kunst ist dann kein Sondergebiet der Kultur mehr,

RR: Dafür braucht es eine neue Sprache…

WUK: Es ginge darum, dass ich nicht mehr nur inhaltlich spreche, sondern dass ich durch den Inhalt die angedeuteten Empfindungsebenen beim andern anspreche – aber in diesen Empfindungsebenen kann der „objektive“ Inhalt leben. Das ist die Wirklichkeit, die im Sinne des Neuen Jerusalems immer mehr durch die Individualität besteht. Die Bedingung ist eben, dass sie durch die empfindende Individualität durchgeht, weil in der Empfindung sowohl der Kraftschluss zum Menschen als auch in die Natur liegt. Der Kraftschluss ins Bewusstsein, aber auch ins Sein.

SB: Wie kann das vermittelbar werden?

WUK: Ich muss lernen in Bereichen zu denken, in denen mein Denken kein Abbilddenken ist, sondern wo ich im Denken neue Zusammenhänge bilde. Wenn ich diese Denkerfahrung ins Produktive habe, besteht auch die Möglichkeit, dass ich produktiv anfange zu sprechen und nicht nur gegebene Welt, Gedachtes oder das, was empfindungsmäßig in mir lebt, abbildartig wiedergebe, sondern dass das Sprechen selber ein intuitiver situativer Prozess werden kann. Es geht darum, dass wir im Sprechen wechselseitig zusammenkommen, und das ausgesprochene Wort, wenn es den andern Menschen erreicht, letztlich auch die Welt erreicht. Jetzt käme es darauf an, dafür ein Bewusstsein herzustellen. Eine Wirkung der eigenen Selbstaktivierung ist, dass ich dadurch anders spreche, nicht inhaltlich, sondern einfach in der Atmung anders spreche. Dadurch verändert sich der Atemprozess, auch wenn ich nicht spreche. Und durch den veränderten Atemprozess geht eine permanent gesundende Wirkung auf den Gesamtorganismus über. Dieser Luftseelenprozess wirkt auch auf andere Menschen, weil man ja nicht nur die Inhalte hört, sondern auch die Art des Sprechens und die Intention des Sprechens.

SB: Muss nicht auch der Wissenschaftler eine Art von Sprache finden, um eine neue Art von Empfindung der Wissenschaft zugänglich zu machen? Oder wie sollte der Priester sprechen?

WUK: Es gibt von Alanus ab Insulis eine herrliche Stelle: Man hört auch, dass der Glaube in Zukunft überflüssig und seine Nachfolge die Wissenschaft und damit die sichere Erkenntnis sein wird. Es ist ja nicht so, dass die Wissenschaft den Glauben ablöst, indem sie ihn auslöscht – das hat Alanus nicht gemeint – sondern dass die lebenstragenden Orientierungen, die im Glauben sind, eingehen in die Wissenschaft. Es besteht eine große Sehnsucht in der Zivilisation nach einer solchen Wissenschaft, die nicht mehr in der Fachterminologie untergeht, sondern die von dem objektiven Empfindungsbezug zur Sache ausgeht und das in eine Sprache fasst, die im Prinzip allgemeinverständlich ist, was nicht heißt, dass man sich da nicht erst einarbeiten muss.

SB: Und wie sähe diese Wissenschaft dann aus?

WUK: Sie hätte als Grundkennzeichen, dass sie nicht eine Wirklichkeit ohne Menschen abstrahierend annimmt, sondern dass die Objektivität gerade durch meinen individuellen Umgang mit der Sache entsteht. Und sie würde auf dem Bewusstsein beruhen, dass ich die Sache nur erkennen kann, wenn ich mich selbst entwickele, dass in meiner Erkenntnis und auch in ihrer Darstellung dieser Subjekt-Objekt-Prozess enthalten ist. Die Objektivität entsteht eben gerade nicht, indem ich mich als Forscher vollständig herausnehme.

SB: In dem Sinne wäre jede Modellwissenschaft vollkommen obsolet?

WUK: Auch die Modelle haben ja eine Wirklichkeit. Rudolf Steiner sagt, der Mensch wird zunehmend zu dem, als was er sich zu denken vermag. Wenn wir Modelle denken, geben wir nicht die Wirklichkeit wieder, sondern die Modelle werden Wirklichkeit. In diesem Sinne gilt: Wenn ich mich lange und intensiv genug als rein physiologisch bestimmt denke, werde ich so, als wäre ich rein physiologisch bestimmt und damit bestätige ich nachträglich die vorher noch falsche Theorie bestätige. Denken wirkt auf jeden Fall als Kraft.