„Eine neue Natur aus geistiger Übernatur schaffen“
Interview zu neuen Entwicklungen der Mistelforschung
„Eine neue Natur aus geistiger Übernatur schaffen“
Vor 100 Jahren hat Rudolf Steiner gemeinsam mit Ita Wegman die Behandlung von
Krebs mit Hilfe der Mistel angeregt. Nun werden ab Sommer erstmals Mistelöle und –
lotionen in den Handel kommen. Dahinter steht eine ungewöhnliche Entwicklungsarbeit
zwischen dem anthroposophischen Reinigungsmittelhersteller Sonett und Professor Dr.
Dr. Wolf-Ulrich Klünker, der nicht nur an der Alanus Hochschule, sondern auch im
Rahmen der Delos Forschungsstelle tätig ist. Ronald Richter sprach mit ihm über die
Aufgabe der Mistel in unserer Zeit und ein vertieftes Verständnis von Anthroposophie.
Wolf-Ulrich Klünker, wozu dienen die jetzt entwickelten, neuartigen Mistelöle? Zur
Behandlung von Krankheiten oder zur Kosmetik?
Ich selbst bin mit der Mistelfrage seit 25 Jahren und länger beschäftigt. Vor etwa drei Jahren
hat mich die Firma Sonett gefragt, ob ich mir vorstellen könne, dass die DelosForschungsstelle mit Sonett kooperiert. Die beiden Geschäftsführer, Gerhard Heid und Beate
Oberdorfer, sind überzeugt, dass unter Bedingungen der Bewusstseinsseele Unternehmungen
zusammenarbeiten müssen mit Einrichtungen, mit denen sie nicht unmittelbar zu tun haben,
wenn eine geistige Bezugnahme möglich ist. Wir haben uns für die Mistel als
Kooperationsthema entschieden und versucht, das, was an anthroposophischer Tradition da
ist, aufzuarbeiten. Schließlich meinen wir, dass heute im 21. Jahrhundert unter Bedingungen
der Bewusstseinsseele die Therapie nicht erst beginnt, wenn schon ein Medikament
verwendet wird, sondern dass Therapie mit dem menschenkundlichen und
geisteswissenschaftlichen Denken beginnt. In diesem Sinne haben wir durchaus in
Anknüpfung an die anthroposophische Tradition gearbeitet, aber unser Verfahren nicht direkt
von daher übernommen. Ich bin auf ein technisches Verfahren gestoßen, das in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist: Es ist der sogenannte fluidische Oszillator,
der heute vor allem in der Luft- und Raumfahrttechnik eingesetzt wird und verwendbar ist für
Luft- und Flüssigkeitsprozesse. Daraus haben wir ein Verfahren entwickelt, das wir
bezeichnen als „Mistelform. Sensible Prozesse“.
Unter diesem Label geht das Produkt auch in den Handel?
Genau. Wir haben zunächst eine Grundsubstanz der Mistelaufbereitung entwickelt, dann die
Weiterverarbeitung zu Hautölen und Lotionen. Das ist inzwischen durch eine
Erprobungsphase gegangen, insbesondere bei professionellen Masseuren und Menschen aus
dem Bereich der Rhythmischen Massage. Also, auf deine Frage: Ist das Therapie oder
Kosmetik? Die europäische Anmeldung läuft unter „Kosmetik“; wir verstehen es aber im
umfassenden Sinne menschenkundlich gedacht, so, wie Rudolf Steiner den Begriff der
Hygiene und des hygienischen Okkultismus aufgefasst hat.
Sonett produziert Seifen und Geschirrspülmittel mit dem Oloid. Hat der fluidische
Oszillator damit zu tun?
Nein, der fluidische Oszillator ist ein Verfahren, wo ohne äußere Bewegung, rein durch
Innenraumgestaltung, bestimmte Schwingungs- und Sensibilisierungsprozesse im Bereich
Luft und Flüssigkeit entstehen. Wir stellen im Oszillator zwei Grundsubstanzen her: eine Art
Wintersubstanz der Mistel, die vom Sommer her sensibilisiert ist, und eine Sommersubstanz,
vom Winter her sensibilisiert. Die so im Oszillator entstandenen „übernatürlichen“ Sommerund Wintersubstanzen haben wir zunächst im Oloid verbunden. Inzwischen sind wir aber
dahin gekommen, diese letzte Stufe der Verbindung beider Ströme ebenfalls im Oszillator
vorzunehmen.
Im Dezember 2015 fand ein Forschungskolloquium mit dem Mistelforscher Prof. Dr.
Volker Fintelmann statt. Du hast es bezeichnet als eine Art Stabübergabe. Wie lief das ab?
Nicht als eine Stabübergabe speziell an unsere Arbeit, sondern generell. Diese Veranstaltung
an der Hamburger Carl Gustav Carus Akademie habe ich nämlich insofern als eine Art
Abrundung einer Entwicklungsphase verstanden, als Volker Fintelmann formulierte, die
Mistel sei nun in eine neue Phase eingetreten, wo der Mistelzusammenhang imaginativ neu
verstanden werden müsse. Diese Aussage von jemandem, der bis in die letzten Jahre hinein an
vorderster Front therapeutisch mit der Mistel tätig war – da liegt etwas drin, was mich
enthusiasmiert hat, den Zusammenhang neu zu denken.
„Wie können diese Ichkräfte, die sensibel in den Organismus einwirken, durch die Mistel verstärkt werden? “ – Wolf-Ulrich Klünker
Wie können wir uns das vorstellen? Mein Eindruck ist, dass trotz Forschung und
Anwendung die Mistel aus einem Nischendasein auch nach hundert Jahren nicht
herauskommt. Was ist jetzt das Neue?
Ich glaube, dass dieser Ansatz sich in verschiedenen Stufen als neu verstehen kann. Sobald
man näher einsteigt, wird nämlich deutlich, dass schon bei den Auszügen der gepflückten
Mistel große Fragen entstehen; dann ist unklar und umstritten, was Sommer- und
Wintermistel bedeutet. Und dass diese Unklarheiten im Hinblick auf den von Rudolf Steiner
betonten Maschinenprozess sich fortsetzen. So dass sich unterschiedliche Lager gebildet
haben, zum Beispiel im Hinblick auf die Berücksichtigung der Provenienz der Mistel von
verschiedenen Wirtsbäumen. Damit hat die anthroposophische Misteltradition verschiedene
Phasen von Enthusiasmus und Depression durchlaufen, bis dahin, dass auch in
anthroposophischen Therapien die Misteltherapie oftmals nur noch als Begleitung angeboten
wird. Das hat uns grundsätzlich zu der Frage geführt: warum eigentlich die Mistel als
Krebstherapiemittel? Man kann die Beantwortung dieser Frage nicht an Rudolf Steiner
delegieren, bloß weil der es gesagt hat. Wir müssen zu eigenständigen Erkenntnisgrundlagen
gelangen. Da erscheint es mir wichtig zu sehen, dass die Mistel von ihrer Entwicklung her
etwas in sich trägt, was heute die Pflanzenwelt eigentlich nicht mehr hat, indem sie vegetative
Prozesse mit sensiblen Prozessen verbindet, dass in ihr also Lebens- und Erlebensprozesse,
Leben und Empfindung zusammenkommen. Und wenn man das alte menschenkundlich therapeutische Prinzip des Aristotelismus nimmt, das lautete: „anima forma corporis“, also,
die Seele als Formkraft des Leibes, dann erlebt man, wie diese Sensibilität auch formbildend
im Leib wirkt. Unsere Frage ist: Wie kann diese Sensibilität als Empfindungsqualität von
Ichkräften her gebildet werden? Wie können diese Ichkräfte, die sensibel in den Organismus
einwirken, durch die Mistel verstärkt werden? Das ist unser menschenkundlicher Ansatz.
Was hat eure Mistelforschung mit der heutigen Zeit zu tun?
Ich habe den Eindruck, dass gegenwärtig die Ichentwicklung einen Punkt erreicht hat, wo der
Organismus darauf wartet, durch bewusste Ichkräfte unterstützt zu werden. Rudolf Steiner hat
in den sogenannten Mitgliederbriefen am Ende seines Lebens formuliert:
Bewusstseinsseelenkräfte walten im Leib, aber noch nicht in der Seele. Und wenn
Bewusstseinsseelenkräfte im Leib walten, dann bedeutet das meines Erachtens: Der
Organismus funktioniert schon sozusagen modern. Er ist nur zunehmend darauf angewiesen,
dass vom Ich her diese Bewusstseinsseelenkräfte auch bewusst entwickelt werden. Ich sehe
viele Krankheitsprozesse im seelischen und im somatischen Bereich gar nicht verursacht
durch Vergangenheitsgründe in der Biographie oder der Genetik, sondern aus fehlender
Zukunft. Weil das Ich diese Bewusstseinsseelenkräfte nicht bewusst hervorbringt, wartet der
Leib im vorhin angedeuteten Sinn von anima forma corporis vergeblich auf sensible
Formkräfte aus dem Ich. Wenn die nicht kommen, dann entstehen unter Umständen
Wucherungen, Depressionen und Burn-out. Insofern ist aus dieser Perspektive jede Krankheit
heute individuell anzusehen.
Noch mal kurz zu der merkwürdigen Mistel. Sie unterscheidet sich von allen anderen
Pflanzen?
Schon in Farbe und Form. Sie wächst in der Baumkrone ohne eigene Wurzeln in einer
kugeligen Gestalt unbeeindruckt von der Schwerkraft, die den Pflanzen sonst ihre
Wachstumsrichtung vorgibt. Sie blüht im Winter, bildet keine Samen, sondern Keimlinge. Sie
muss erst noch Erdenpflanze werden. Das Wesen der Mistel spricht etwas an, was heute in
jedem Menschen als existentielle Entwicklungsfrage lebt: Selbstverantwortung, das heißt,
Ichfähigkeit. Wir sind immer mehr selbst für unsere Gesundheit und für unser Leben
verantwortlich.
Blüte und Frucht finden im Dezember statt. Das erinnert mich an die Christrose, die auch
zur Krebstherapie genutzt wird. Haben die beiden irgendeinen geheimen Zusammenhang?
Ich denke, der Zusammenhang besteht darin, dass etwas Natürliches durch „übernatürliche“
Ich-Kräfte zu einer neuen Natürlichkeit findet. Das hängt mit dem Begriff von Über- und
Unternatur zusammen, den Steiner am Ende seines Lebens gebildet hat. In den allerletzten
Leitsätzen und dem dazugehörigen letzten Mitgliederbrief vom März 1925 ist die
Grundaussage: Es wird in Zukunft immer weniger Natur geben. Das, was früher Natur war
und unter Natur verstanden wurde, wird immer mehr Unternatur. Es kommt nun darauf an,
eine Art Übernatur zu bilden. Heute kann man hinzufügen: Damit wir eine bestimmte
menschenkundliche und naturkundliche Erkenntnishöhe auch im Erleben erreichen, die sich
der Natur mitteilt. Dadurch entsteht aus dieser vom Menschen zu bildenden Übernatur eine
neue Natur. Und in diesem Zusammenhang würde ich Mistel sehen beziehungsweise das, was
wir in der Mistelverarbeitung zu leisten haben: eine neue Natur aus geistiger Übernatur. Die
Natur ist in dieser Hinsicht auf den Menschen angewiesen, auf seine Ichprozesse. Vielleicht
deutet sich das auch im Verständnis der Christrose an. Für eine neue Ökologie scheint mir
allerdings die Mistel eine Art Vorreiterfunktion zu haben. Die bedeutet nicht Bewahrung von
Natur, sondern Schaffen von Zukunftsfähigkeit von Natur. Und die Mistel ist diejenige
Pflanze, die diesen Prozess für den menschlichen Organismus ermöglicht durch
entsprechende ätherisch wirksame Empfindungskräfte, die in ihr veranlagt sind und die heute
ichhaft weiterentwickelt werden können.
Wie geht es weiter?
Ich glaube, dass zunächst das Ganze auch ein neuer Begriff des Unternehmerischen ist und
ebenso des Umgangs mit anthroposophischer Tradition. Und das bedeutet, wir kommen nie zu
Ende. Die Sache muss immer weiter entwickelt werden. Wir sind schon jetzt an einer
nächsten Stufe dran, den ich als forcierten Mistelprozess bezeichne und wo es um die Frage
geht: Ist die Substanz in diesem Sensibilisierungsprozess eigentlich notwendig nur die Mistel,
oder müssen wir nicht fragen, ob die Mistel heute nicht durch andere Substanzen ersetzt
werden kann? In diesem Sinne stehen wir völlig am Anfang der Entwicklung. Wir sind auch
weiter sehr interessiert am Diskurs und haben gerade wieder verschiedene Veranstaltungen
und Kolloquien in Planung; wir stehen mit vielen Fachleuten in Kontakt. Mir ist es sehr
wichtig, idealerweise mit allen Menschen, die im anthroposophischen Kontext an der Mistel
arbeiten, zu kooperieren. Auch dieser Prozess wird weitergehen. ///
Das Gespräch führte Ronald Richter.
In: Info 3, 2/2017