31. Dezember 2014

Anthroposophie als Wissenschaft


Überarbeitete Fassung des Berufungsvortrags an der Alanus-Hochschule, Alfter
Wolf-Ulrich Klünker

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Rudolf Steiner hat die Anthroposophie von Anfang an wissenschaftlich konzipiert: als „Geisteswissenschaft“. Der Begriff „Geisteswissenschaft“ bezieht sich dabei nicht wie sonst im Sprachgebrauch üblich auf eine Unterscheidung von den Naturwissenschaften, sondern auf die Grundlagen der hier gemeinten Wissenschaft. Einerseits ist sie als Wissenschaft, also als Erkenntnis des denkenden und schaffenden Geistes und seiner Produkte in der Welt gemeint (und umfasst insofern auch die Gegenstände der Naturwissenschaften); andererseits bezieht sie auch die Eigenentwicklung des erkennenden Geistes (gleichsam als Selbsterkenntnis der Wissenschaft) mit ein.

Mit dem zuletzt genannten Aspekt sind die im eigentlichen Sinne spirituellen Erkenntnisgrundlagen der Geisteswissenschaft angesprochen. Geisteswissenschaft ist nämlich insofern spirituell, als sie berücksichtigt, dass der menschliche Geist sich selbst entwickeln muss, um dem Gegenstand seiner Erkenntnis angemessen zu werden und ihn schließlich erkennen zu können. Keine Erkenntnis des wissenschaftlichen Objektes ohne eine Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Subjektes; und – darin besteht der zweite Aspekt der spirituellen Grundlagen – diese Weiterentwicklung des erkennenden Subjektes hat Auswirkungen auf das zu erkennende Objekt. So kommt eine doppelseitige Bewegung in den Erkenntnisprozess, die ihn über die Stufe einer Abbilderkenntnis von gegebener Wirklichkeit hinaushebt.

Damit ist die entscheidende Dimension von Geisteswissenschaft in spiritueller Ausrichtung und auf spiritueller Grundlage angesprochen: „Spiritualität“ meint hier im Rekurs auf den ursprünglichen Begriff des Spirituellen nicht anderes, als dass der Erkennende und das zu Erkennende in eine wechselseitige Bewegung kommen, die wiederum Gegenstand der Erkenntnis werden kann. Mit einer so verstandenen Geisteswissenschaft wird das alte aristotelische Erkenntnisprinzip „adaequatio intellectus at rem“, die Angleichung des Denkens bzw. des menschlichen Geistes an den Erkenntnisgegenstand, ernstgenommen und um die Dynamisierung des Erkenntnisobjektes erweitert.

Wissenschaftsgeschichtlicher Hintergrund

Das von Rudolf Steiner intendierte Verständnis der Anthroposophie als Wissenschaft ist bisher wenig erforscht. Aus einer sachgerechten Erarbeitung würde sich ergeben, dass die Geisteswissenschaft nicht als esoterische Alternative zur akademischen Wissenschaft, sondern als Weiterentwicklung verschiedener Wissenschaftsbereiche in einer bestimmten historischen Situation gemeint war. Anthroposophie und Geisteswissenschaft werden zum Zerrbild, wenn die wissenschaftsgeschichtliche Lage nicht berücksichtigt wird, in der sie entstanden sind. Rudolf Steiners Einschätzung war, dass verschiedene Wissenschaftsbereiche sich im Übergang zum 20. Jahrhundert an einer Grenze befanden, an der die Zukunftsfähigkeit der Wissenschaft gefährdet und der Mensch als erkennendes Subjekt aus der Theorie der Wissenschaft entfernt werden könnte. Steiner wollte mit seinem Konzept von anthroposophischer Geisteswissenschaft eine auf die zukünftige (Ich-)Entwicklung der Menschheit bezogene Erkenntnisrichtung begründen, in der der erlebende und sich entwickelnde Mensch in seiner Einwirkung auf eine zukunftsoffene Welt repräsentiert sein sollte.

Dieser Zusammenhang sei kurz an der Christologie veranschaulicht: Die Theologie war durch die sogenannte „Leben-Jesu-Forschung“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts an einen Punkt gekommen, an dem sie in den Evangelien keine tragfähige Aussage über den Christus mehr finden konnte. Die Erforschung des Lebens des Menschen Jesus ohne christologischen Anspruch hatte darüber hinaus die Widersprüche und Unstimmigkeiten in den Evangelien deutlich zu Bewusstsein gebracht. Schließlich konnte im Hinblick auf die Inhalte der Evangelien wissenschaftlich nicht mehr von Christus, nicht mehr vom („historischen“) Menschen Jesus, sondern nur noch von konkurrierenden Lehrmeinungen mit sehr zweifelhaftem Wahrheitsgehalt die Rede sein. Dieser Entwicklung stellte Rudolf Steiner seine Vortragsreihe von „Jesus zu Christus“ gegenüber, die er in Karlsruhe hielt, in derjenigen Stadt, in der Arthur Drews gelehrt und vertreten hatte, dass in der Konsequenz der „Leben-Jesu-Forschung“ das Leben Jesu negiert werden müsse („Die Christusmythe“, 1909 und 1911). Rudolf Steiner wollte in dem genannten Vortragszyklus des Jahres 1911 zum Ausdruckbringen, dass wissenschaftlich tragfähige Aussagen über den Menschen Jesus nur möglichseien, wenn zuvor ein spiritueller Begriff des Christus gebildet werden konnte. Auf der Grundlage eines solchen geisteswissenschaftlichen Christus-Verständnisses war dann auch die Frage nach dem Menschen Jesus möglich, wie sie Steiner beispielsweise in der Schrift „Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit“ grundgelegt und in den Vorträgen zum sogenannten „Fünften Evangelium“ über mehrere Jahre weiter ausgeführt hat.

Explizit hat Steiner eine wissenschaftsgeschichtliche Herleitung und in gewisser Hinsicht auch eine wissenschaftstheoretische Einbettung der Anthroposophie als Geisteswissenschaft insbesondere 1924 im Zusammenhang der Neukonstitution der Anthroposophischen Gesellschaft und der Begründung der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ vorgenommen. Hier wird deutlich: Ein Verständnis der Anthroposophie als Geisteswissenschaft setzt voraus, dass die historischen Linien von Platonismus und Aristotelismus mit ihren Abgrenzungen und Berührungen, aber auch mit ihrer (1924 noch zukünftigen) potentiellen Koinzidenz im 20. Jahrhundert in den Blick genommen werden. Anthroposophische Geisteswissenschaft verbindet ihrer Intention nach die platonische und die aristotelische Entwicklung zu einer neuen, spirituell offenen wissenschaftlichen Zukunft. Die Vortragsreihe „Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung“ und die sogenannten Karma-Vorträge des Jahres 1924 weisen eindringlich auf diesen wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der Anthroposophie hin. In schriftlicher Form hat Rudolf Steiner in den „Anthroposophischen Leitsätzen“ der Jahre 1924/25 und in den die Leitsätze begleitenden Mitgliederbriefen die platonisch-aristotelische Situierung der Anthroposophie formuliert. (Insbesondere ist hier der Mitgliederbrief mit dem Titel „Im Anbruch des Michael-Zeitalters“ zu nennen (GA 126). Anthroposophie als Wissenschaft, aber auch das Schicksal der anthroposophischen Bewegung werden an ein Verständnis des Entwicklungszusammenhangs von Platonismus und Aristotelismus geknüpft. Insbesondere wird die Aufmerksamkeit auf eine wissenschaftsgeschichtliche Schlüsselsituation im 13. Jahrhundert gelenkt: auf die (platonischen) Erkenntnisbemühungen in der Schule von Chartres, hier vor allem im Werk des Alanus ab Insulis (platonisch), und auf die aristotelisch orientierte Scholastik, vor allem im Werk des Thomas von Aquin. Eine Vergegenwärtigung beider Erkenntnisströmungen in der anthroposophischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollte dann für das Ende des 20. Jahrhunderts eine „Kulmination“ des Zusammenwirkens von Platonikern und Aristotelikern aus der Anthroposophie heraus ermöglichen.

Jenseits von Rudolf Steiner

Wir stehen in der Gegenwart vor der wissenschaftshistorisch und anthroposophiegeschichtlich interessanten (und auch schwierigen) Situation, dass diese Prognose Rudolf Steiners heute historisch betrachtet werden kann – zum einen im Hinblick auf die Umstände ihrer Formulierung, zum anderen aber auch bereits im Hinblick auf ihre potentielle Einlösung. Hinzu kommt, dass das 20. Jahrhundert gerade in seiner zweiten Hälfte philologische  und philosophische Entwicklungen hervorgebracht hat, die Positionen vom Anfang des 20.Jahrhunderts in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Die intensive Beschäftigung mit den wissenschaftlichen Protagonisten, die Rudolf Steiner für das 13. Jahrhundert nennt, zeigt, wie berechtigt die Einschätzungen Rudolf Steiners waren, wenn er die Schule von Chartres und die Scholastik des Thomas von Aquin gegenüberstellt und in Verbindung bringt. Der Ver-fasser dieses kleinen Überblicks hat über viele Jahre an der Geistesgeschichte des 13.Jahrhunderts und ihren zentralen Inhalten gearbeitet; die geisteswissenschaftliche (Mit verschiedenen Monographien, Übersetzungsausgaben und Zeitschriftenartikeln zu Alanus ab Insulis, Thomas von Aquin und anderen Denkern dieser Zeit) Erschließung dieser Erkenntniswelten zeigt, wie treffsicher Rudolf Steiner hier Entwicklungsrichtungen aufgezeigt hat. Insbesondere ging es ihm um die Beiträge des Thomas zur Ich-Entwicklung des Menschen – mit seinem gleichsam vorlaufenden wissenschaftlichen Ich-Begriff, der dann Jahrhunderte später eine lebens- und schicksalsbezogen „wirkliche“ Ich-Entwicklung ermöglichen sollte. Die hervorragende Bedeutung des Thomas von Aquin für eine christlich-wissenschaftliche Fassung des Aristotelismus , für eine auf Ich-Individualität gegründete Menschenkunde und damit für die Begründung der Anthroposophie fast sieben Jahrhunderte später steht also fest.
Andererseits wurde seit der Mitte des 20. Jahrhunderts durch Forschungen und Editionen zum Werk des Albertus Magnus, dem Lehrer und Zeitgenossen des Thomas von Aquin, deutlich, dass im Werk des Albertus durchaus eine Integration von platonischem und aristotelischem Denken vorliegt – dass also bereits im 13. Jahrhundert zumindest partiell vollzogen wurde, was Steiner noch als Desiderat ansah. Insbesondere seit den siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts wurde die Forschung zu Albertus Magnus intensiviert, vor allem in den Arbeiten des Albertus-Magnus-Instituts in Bonn. Es erscheinen kritische lateinische Textausgaben, Übersetzungen und Forschungen, aus denen ein Bild entsteht, wie umfassend Albertus, auch über Thomas von Aquin hinaus, in nahezu allen Wissenschaftsbereichen platonische und aristotelische Ansätze zusammenbringt. Man muss sich vor Augen halten, dass hier ein ungeheures Textvolumen zu sichten und zu erarbeiten ist; es konnte erst gegen Ende des 20.  Jahrhunderts ein deutlicheres Bild vom Schaffen des Albertus entstehen, während Rudolf Steiner stark von dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts geltenden und auch virulenten Thomismus geprägt war (auch biografisch etwa in seiner Wiener Umgebung).

Hier ergibt sich also die geistesgeschichtliche und auch geisteswissenschaftliche Aufgabe, die Gestalt des Albertus neben der des Thomas von Aquin zur Geltung zu bringen. Eine solche Aufgabenstellung erscheint noch dringlicher, wenn man die Forschungen von Kurt Flasch und seiner Schule hinzunimmt (ebenfalls seit etwa den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts); in ihr wurde und wird mit einer für die Philosophiegeschichte ungeheuer starken Publikumswirksamkeit die Wissenschaftsentwicklung und der Erkenntnisbegriff des Hochmittelalters untersucht, auch um zu verdeutlichen, dass zwischen der Scholastik etwa eines Thomas von Aquin und der Mystik beispielsweise eines Meister Eckehart kein wirklicher Widerspruch besteht. Dass die wissenschaftliche Scholastik und die eher auf geistige Selbsterfahrung gerichtete Mystik sich verbinden lassen, wird gerade an der Gestalt
des Albertus Magnus festgemacht; hinzu kommt die Verdeutlichung des Erkenntnisbegriffs an ihn anknüpfender Denker, u.a. Dietrichs von Freiberg und Ulrichs von Straßburg. Wenn Anthroposophie als Geisteswissenschaft sich nicht zurecht dem Vorwurf aussetzen will, an Positionen festzuhalten, die inzwischen mindestens 90 Jahre alt sind, müssen die Forschungsergebnisse zu Albertus Magnus und die Bemühungen der Flasch-Schule in die geistesgeschichtliche Perspektive Rudolf Steiners eingearbeitet werden. Rudolf Steiner selbst wäre der letzte gewesen, der nicht durch einen möglich gewordenen Forschungsfortschritt eigene Positionen weiterentwickelt und auch revidiert hätte. Der Hinweis, Rudolf Steiner hätte diese geistesgeschichtlichen Zusammenhänge in seiner spirituellen Überschau im Bewusstsein gehabt, wäre obsolet und würde der Erkenntnishaltung Rudolf Steiners selbst direkt widersprechen. Denn das wahrhaft esoterische Erkenntnisprinzip ist nicht das der Wiederholung oder der Nachahmung, sondern das der Anknüpfung. Und anknüpfend an die Darstellungen Rudolf Steiners, insbesondere im Jahr 1924, lassen sich heute die erwähnten neueren Forschungen zu einem Gesamtbild verarbeiten, das für die Zukunft geisteswissenschaftlich tragend werden könnte.

Albertus Magnus und die anthroposophische Menschenkunde

Neben der geistesgeschichtlichen Bedeutung des Albertus kann sein anthroposophisch bisher kaum erschlossenes Werk auch inhaltlich zu einer geisteswissenschaftlichen Menschenkunde viel beitragen. Während Thomas die Individualisierung des Menschen vor allem als geistige Entwicklung und mental im Denken (intellectus) beschreibt, kennt Albertus auch die Individualisierung im „Ort“ des Erkenntnisprozesses, also letztlich in der äthergeografischen Einbindung des intellectus durch den Menschen. In seiner Schrift „Über die Einheit des
Geistes“ (De unitate intellectus) entwickelt Albertus einen Begriff der sogenannten „Erkenntnisformen“ (species), der den erkennenden mit dem fühlenden Menschen zusammenbringt und darüber hinaus Mensch und Welt verbindet: Was im Menschen in der Wahrnehmung, Empfindung oder im Denken zum Bewusstsein führt, ist zugleich als Form in der Welt repräsentiert; und umgekehrt: die Formen der Welt finden sich in den Bewusstseinsinstanzen des Menschen wieder – Subjekt und Objekt rücken nahe zusammen; das Ich ist nicht mehr von der Welt isoliert. Dass dabei eine „objektive“ Wirklichkeit ohne den Menschen undenkbar ist, zeigt sich etwa in der grundlegenden Formulierung, die u.a. auch zwei Jahrhunderte später im „Compendium“ des Nicolaus Cusanus zu finden ist: „Opus naturae est opus intelligentiae – das Werk der Natur ist das Werk der Intelligenz. Anstelle von
intelligentia könnte hier auch intellectus stehen; beide Begriffe zielen auf einen umfassenden intellectus-Prozess von den geistigen Hierarchien bis zum menschlichen Denken. Die Trennung von Natur und Denken, von Sein und Bewusstsein ist aufgehoben.

Beide Aspekte von Albertus‘ Werk sollen in einem Forschungsprojekt erschlossen werden, das auch von der Förderstiftung Anthroposophie der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland unterstützt wird. Thomas von Aquin hat ebenfalls eine Schrift mit dem Titel „De unitate intellectus“ hinterlassen; sie wurde vom Verfasser in der in Anmerkung 2 erwähnten Thomas-Edition übersetzt und kommentiert. Nun besteht die Absicht, auch eine kommentierte Übersetzung der gleichnamigen Schrift des Albertus zu erarbeiten. Die Parallelität beider Schriften ermöglicht in besonders schöner Weise, das geistige Verhältnis zwischen Thomas und Albertus freizulegen. Zudem finden sich bei Albertus Passagen über die geistige Natur des Lichts und der Farben sowie eine Verbindung von Farbwahrnehmung und denkender Erkenntnis in der Empfindung, die für eine zukünftige Menschenkunde des erlebenden und zugleich objektiv erkennenden Individuums eine große Rolle spielen könnte – denn hier wird der fühlende Mensch nicht mehr von der „objektiven“ Erkenntnis von Wirklichkeit separiert. Gerade in der Einbeziehung von Lichtaspekten in den philosophischen Diskurs trägt Albertus platonische Sichtweisen in den (zunächst eher aristotelischen) intellectus-Erkenntnisbereich, und zugleich wird damit die wissenschaftliche Erkenntnis an das erlebende Subjekt angebunden. In seinem Werk über „Die Natur und den Ursprung der Seele“ gelingt es Albertus gerade durch die Integration platonischer Gesichtspunkte, die Psychologie bis in die nachtodliche Existenz des Menschen fortzuführen und insofern die drei Bücher des Aristoteles „Über die Seele“ in den spirituellen Bereich hinein zu erweitern. Die „Physik“ des Albertus ist wie die des Thomas eine reine Bewegungswissenschaft; hier finden sich letztlich, gleichsam „naturwissenschaftlich“, die eigentlichen geistesgeschichtlichen Grundlagen der Eurythmie. In Albertus‘ Pflanzenlehre gibt es einen Abschnitt zur Mistel, der insbesondere den Formprozess zwischen Mistel und Wirtsbaum erörtert und aussagefähig werden könnte für ein Verständnis therapeutischer Wirkungen und für das Problem organischer Formgebung. Manche Aussagen des Albertus sind leichter vor anthroposophischem Hintergrund zu verstehen; beispielsweise wenn er davon spricht, dass „nur der Mensch“ die „hierarchischen Formen“, die in der Natur irdisch geworden sind, wieder in den Kosmos zurückführen kann. – Insgesamt bietet das Werk des Albertus viele Gelegenheiten, die Beziehung von Mensch und
Welt real und irdisch, nicht nur mental und idealistisch zu verstehen; die Erarbeitung dieser Aspekte seines Werkes könnte auch dazu beitragen, Geisteswissenschaft aus der Höhe der Idealität in den Bereich der Realität zu überführen. Gerade in seiner „platonischen“ Integration von intellectus und sensus bietet Albertus ein breites Feld für eine Menschenkunde des 21. Jahrhunderts – selbstverständlich die Transformation in das moderne menschliche Bewusstsein und das wissenschaftliche Denken der Gegenwart vorausgesetzt.

Schon an dieser Aufzählung kann spürbar werden, dass das Werk des Albertus im 13. Jahrhundert zur absoluten Spitzenforschung zu zählen war, ähnlich wissenschafts- und kulturbestimmend, wie heute beispielsweise die Hirnforschung oder bestimmte Aspekte der modernen Physik. Geisteswissenschaft müsste allmählich zu einem Element einer solchen Spitzenforschung werden, natürlich in anderer Weise und auf anderen Gebieten. Denn die
Anthroposophie kann wissenschaftlich (und auch kulturell) nicht auf Dauer in einer spirituellen Außenseiterrolle bestehen; sie müsste sich durch Ergebnisse, nicht durch Weltanschauung, durch „Spitzenforschung“ mit Erlebenswirkung, nicht durch idealistische Positionen in der Wissenschaft und in der Kultur Anerkennung verschaffen. Dabei kann sie Rudolf Steiners Aussage einlösen: „Es muss der Mensch das werden, als was er sich denkt.“ (Vortrag vom 13.11.1917 (GA 178)) Vielleicht gilt heute noch stärker, positiv wie negativ: Der Mensch wird zunehmend zu dem, als was er sich zu denken vermag. Denken und Erkenntnis haben nicht nur eine beschreibende, sondern auch eine schaffende Kraft. Erkenntnis ist nicht allein abbildend, vielmehr auch vorlaufend; sie besitzt proskriptive Kraft, inhaltlich und der Art nach: Wie ich denke, das werde ich; wie ich über die Welt denke, das wird aus der Welt – und so entsteht aus problematischem Denken eine entsprechende Wirklichkeit, die sich dann bei späterer deskriptiver Untersuchung als „objektiv“ und notwendig zu bestätigen scheint. Denke ich mich lange und intensiv genug (natürlich nicht nur individuell, sondern auch zivilisatorisch) als hirnphysiologisch bestimmt, so werde ich so, als wäre ich hirnphysiologisch bestimmt und bestätige damit die zuvor noch falsche Theorie. – Anthroposophie als Wissenschaft heißt also vor allen Dingen auch, die schaffende Kraft menschlichen Denkens zur Geltung zu bringen und zu verdeutlichen, wie diese geistige Kraft sozial, seelisch und organisch wirksam ist.

Begriffsrealismus

Eine solche geisteswissenschaftliche „Spitzenforschung“ wäre heute in die wissenschaftliche Tradition des Begriffsrealismus zu stellen. Wissenschaftsgeschichtlich hat der Begriffsrealismus eine eher ideelle und eine eher reelle Seite: ideell sind die Begriffe in den „Ideen“ des Platonismus, reell werden die Begriffe in dem Weltbezug des Aristotelismus; beide treffen sich aber darin, dass Begriffe im Unterschied zum Nominalismus nicht nur als
„Namen“, also Beschreibungen von Realität, sondern als konstitutives Element der Wirklichkeit selbst verstanden werden. Die Anthroposophie als Wissenschaft gründet in dieser Tradition des Begriffsrealismus, was sich insbesondere in den späteren Darstellungen Rudolf Steiners zeigt. So ist die Zusammenhangsbildung im Begriff ein konstitutives Erkenntniselement beispielsweise der „Anthroposophischen Leitsätze“ des Jahres 1924; auch in den Mantren der Klassenstunden innerhalb der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ wirkt eine bedeutende begriffsrealistische Kraft. Von diesen methodischen Ansätzen her wäre auch die frühere Anthroposophie zu rekonstruieren; denn das wissenschaftliche Verfahren kann am ehesten dort einsetzen, wo der Begründer einer
wissenschaftlichen Richtung geendet hat. Vom Ende her erschließt sich der Anfang, kaum umgekehrt. So ist vom Spätwerk Rudolf Steiners her das frühere Werk zu erarbeiten – die „Theosophie“ und die „Geheimwissenschaft“ werden heute erst durch den dezidierten Begriffsrealismus des Jahres 1924 aussagefähig.

Geistige und kosmische Wirklichkeit war für Jahrhunderte wissenschaftlicher Entwicklung Gegenstand einer damaligen „Spitzenforschung“. In der Theologie, der Philosophie, in der Physik und in der Botanik waren geistige Vorgänge selbstverständliche Objekte wissenschaftlicher Untersuchung. Erst in der Neuzeit wurde geistige Wesenheit allmählich aus dem Objektbereich der wissenschaftlichen Disziplinen herausgelöst und nichtwissenschaftlichen Zugängen, etwa der Religiosität, zugeschrieben. Anthroposophie als Wissenschaft kann nicht zurück in vergangene Zeiten; vielmehr hat sie die Entwicklung der Neuzeit vollständig aufzunehmen und von daher zu fragen, wie geistige Inhalte (man denke an Begriffe wie etwa „Kindheit“, „Mensch“ oder „Freiheit“) heute wissenschaftlich diskursfähig werden können. Dabei kann Geisteswissenschaft darauf hinweisen, dass es Erkenntnisbereiche gibt, die eine geistige Eigenbewegung des erkennenden Menschen voraussetzen und die ohne eine geistige Selbstaktivierung des Forschers nicht sinnvoll beurteilt werden können. Dann entsteht das Wissenschaftsmilieu, von dem Hegel am Ende seiner „Phänomenologie des Geistes“ zusammenfassend sagt, dass hier „nichts gewusst wird, was nicht in der Erfahrung ist“, nämlich als „gefühlte Wahrheit“. Eine solche Wissenschaft verwendet Begriffe als Sensorien, durch die eine Sensibilität für das Bemerken und und für
das Bilden von Zusammenhängen entsteht.

Wenn sich das menschliche Selbstbewusstsein in seinem Verhältnis zur Welt selbst erkennt, entsteht wissenschaftliches Bewusstsein, nach und nach auch als Lebenshaltung. Dann wird Wissenschaft allmählich auch ein Weg zur Vertiefung der Erkenntnis und des Lebens. Die verschiedenen Wissenschaftsbereiche sind heute im Prinzip offen für eine solche Entwicklung; diese Entwicklungschance war zu Zeiten Rudolf Steiners noch nicht gegeben. Vielleicht ist dieses Potential auch aus der untergründigen Wirkung der Anthroposophie in den letzten hundert Jahren entstanden; aus einer Wirkung, die nicht mit der Übernahme von Inhalten, auch nicht mit einem äußeren Bekenntnis zur Anthroposophie zu identifizieren ist; die vielmehr im Verborgenen aus der geistigen Kraft der Anthroposophie heraus gewirkt und ein ganz prinzipielles (oft noch nicht aktuelles) spirituelles Potential auch im wissenschaftlichen Bereich hervorgebracht hat, in dem Anthroposophie als Wissenschaft heute voll repräsentiert sein könnte.